Weg mit den Priorisierungen, aber schnell: Auf die vorsichtig optimistischen Impfgipfel-Ansagen von Angela Merkel folgt bei "Hart aber fair" fast schon Euphorie – auch wenn Frank Plasberg Impfneid schürt. Eine Ärztin fordert mehr Pragmatismus, ein Immunologe hat gute und beunruhigende Nachrichten.
Die "Ministerpräsidentenkonferenz der Hoffnung" hat
"Lichtblick Impfen: Was man jetzt wissen muss!", lautet der Titel, was nach Service-Journalismus klingt: Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Frank Plasberg und seine Gäste?
Nicht ganz, zahlreiche wichtige Fragen lässt die Runde aus. Dafür macht der Gastgeber fleißig Werbung für Israel-Reisen, eine Impf-Ärztin fordert das schnellere Ende der Priorisierung – und ein Immunologe hat eine gute und eine beunruhigende Nachricht.
Das sind die Gäste bei "Hart aber fair"
Die Impf-Priorisierung müsse so schnell wie möglich fallen, meint Hausärztin Anke Richter-Scheer, Leiterin des Impfzentrums Minden. Die starre Reihung hänge "wie ein Damoklesschwert" über den Ärzten, die mühsam am Telefon Nachrücker organisieren müssen, wenn Impfdosen übrig bleiben: "Wir verlieren zu viel Zeit!"
Nicht so hastig, mahnt Immunologe Carsten Watzl von der TU Dortmund. Noch reiche der Impfstoff nicht, um sich aus der Dritten Welle herauszuimpfen. "Wir können Todesfälle und Krankenhausaufenthalte verhindern – indem wir diejenigen mit hohem Risiko impfen."
"Wir sind in einer Übergangsphase", sagt Dilek Kalayci (SPD), Gesundheitssenatorin von Berlin. So wie es am Anfang richtig gewesen sei, Ältere und chronisch Kranke zu impfen, müsse ab Juni die Priorisierung fallen. Allerdings brauche es genug Impfstoff, damit "keine Konkurrenzsituation entsteht".
Wenn im Sommer Impfstoff im Überfluss einlagert – führt dann der Weg in die Herdenimmunität über einen Impfzwang? Auf keinen Fall, sagt Johannes Vogel (FDP): "Diese Diskussion ist toxisch."
Israel-Korrespondentin Susanne Glass berichtet über den "Pragmatismus", der die erfolgreiche Impfkampagne im Land beschleunigt: "Wenn sich hier junge Leute abends angestellt haben, gab es nie Diskussionen (…), darf der oder darf der nicht."
Der "Psychologe der Nation" Stephan Grünewald hält einen Impfturbo auch in Deutschland für denkbar – nur sei die Kreativität "verschütt gegangen" im Lockdown. Übrig blieb eine andere Tugend, die in dieser Situation bremst: "Wir sind das Land des TÜVs."
Das ist der Moment des Abends
Selten fiel es so schwer, das Kölner Sprichwort "man muss auch jönne könne" zu beherzigen, wie beim Blick nach Israel, auf feiernde Menschen und volle Restaurants. "Es fühlt sich wunderbar an", bekennt ARD-Korrespondentin Susann Glass, fast jeden Abend geht sie mit Freunden essen, für "Hart aber fair" macht sie eine Ausnahme.
Vergangenen Donnerstag ist in Israel erstmals seit zehn Monaten kein Mensch mehr an COVID gestorben, über die Hälfte der Menschen sind komplett geimpft. Glass, 51 Jahre alt, hat ihre Impfung schon erhalten, viel früher als ihre 81-jährige Mutter in Deutschland. Für sie hing Glass in einer Hotline, musste sich QR-Codes notieren, "das hätte sie nie allein geschafft".
In Israel geht es viel schneller, aber warum? Frank Plasberg will "positiven Neid" wecken und zeigt Bilder von mobilen Teams am Strand, Glass erzählt von doppelten Shots in Kneipen – erst ein Pieks mit Biontech, dann ein Schnaps.
Aber abseits dieser bunten Geschichten und Plasbergs Schwärmereien, die Richtung Dauerwerbesendung abdriften, proudly sponsored by El Al, gibt es einen simplen Grund für Israels Vorsprung, den Glass klar benennt: "Wir hatten von Anfang an genug Impfstoff."
Das ist das Rede-Duell des Abends
In Deutschland stellt sich die Impfstoff-Sättigung erst in den nächsten Wochen ein, aber "aus einer Wohltat kann eine Plage werden", wie Psychologe Stephan Grünewald anmerkt, und erste Anzeichen finden sich schon – etwa bei älteren Menschen, die in Aussicht auf vermeintlich "bessere" Impfstoffe Astrazeneca verschmähen, und damit Jüngeren eine Dosis wegnehmen. "Unsolidarisch", wetterte Star-Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast.
Plasberg spielt die drastischen Worte für die sehr harmonische Runde ein, Immunologe Watzl nimmt den Ball auf: "Das ist so, ja." Wenn auch Johnson & Johnson für unter 60-Jährige nicht empfohlen wird, werden Millionen Dosen bald nur "freiwillig, auf eigenes Risiko" verimpft werden können. "Impfen als Mutprobe kann nicht die Lösung sein", meint Plasberg, Watzl stimmt zu – die Impfdosen müssten sofort verimpft werden. "Die sind für über 60-Jährige genau so sicher wie Biontech."
So hat sich Frank Plasberg geschlagen
Wie sicher, das erfahren die Zuschauer an diesem Abend nicht. Die Abneigung gegen Astrazeneca hat ja einen Grund – Schlagzeilen über Hirnvenenthrombosen, eine Erkrankung, die niemand kannte, weil sie selten ist, extrem selten, vor allem bei Nicht-Risiko-Gruppen. Auch im Fall einer Impfung: 63 Fälle hat das Paul-Ehrlich-Institut bei 4,8 Millionen Impfungen festgestellt, rund 0,0013 Prozent. Zum Vergleich: Das Risiko von Blutgerinnseln bei einer COVID-Infektion liegt bei 16,5 Prozent.
Bei der Risikoabwägung könnten diese Fakten helfen, Plasberg liefert sie nicht – dabei zeigt ein Beispiel, wie wirkungsvoll sie sein können: Auf eine Zuschauerfrage skizziert Immunologe Watzl, wie hoch die Gefahr einer Ansteckung für Geimpfte ist: 0,008 Prozent. Sehr gering.
Das ist das Ergebnis
Der Kernpunkt der Sendung ist schnell verstanden: Die Priorisierung war gut, aber gestern. Jetzt ist Pragmatismus gefragt - "und Freude", wie FDP-Mann Vogel es ausdrückt.
Plasberg aber schürt den Impfneid, mit einem Einspieler aus lauter jungen, gesunden Leuten, die dank Schlupflöchern schon geimpft sind. Vordrängler? Völlig wurscht, wenn es nach Ärztin Richter-Scheer geht: "Jeder Geimpfte bringt uns der Herdenimmunität näher."
Dafür, schätzt Immunologe Watzl, brauche es "irgendwo um die 70 Prozent" Geimpfte. Das gehe nur, wenn das Tempo rapide steige - "und wir müssen es über den Sommer halten."
Psychologe Grünewald sieht zwei problematische Gruppen: Die einen pflegten eine "Unverwundbarkeitsdenke", würden sich aber mit Aussichten auf Freiheiten überzeugen lassen. Und Impfskeptiker? "Die kriegen wir nur durch Aufklärung." Und, origineller Vorschlag, durch eine andere Bildsprache: Weg von der bedrohlichen Spritze, von den "bedrohlichen Autoritäten, die sich über einen beugen und das reinjagen". Einen Anfang hat übrigens Apple gemacht: Seit einem Update zeigt das Spritzen-Emoji kein Blut mehr, sondern eine durchsichtige Flüssigkeit.
Apropos Spritzen – zu den Impfungen hatte Immunologe Watzl noch gemischte Nachrichten. Erstens: Die Impfstoffe wirken, auch gegen die Mutanten - "also jetzt bitte impfen lassen!" Zweitens: Es braucht dringend beide Impfdosen, deswegen wird es im Sommer viele "Halbgeimpfte" geben – und erst im Herbst stehe der Test an, ob eine Vierte Welle kommt.
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