Notbremse war gestern, jetzt ist wieder Öffnungsdiskussionsorgie - doch bei "Maischberger" mahnt eine Intensivpflegerin zur Vorsicht. Virologe Hendrik Streeck greift die untätige Politik an, und Sahra Wagenknecht führt einen Feldzug gegen die eigene Partei.
Zurück in die Zukunft: Eben noch debattierte die Politik über die Bundesnotbremse, jetzt stehen wieder die "Öffnungsdiskussionsorgien" an, vor denen
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Das sind die Gäste bei "Maischberger. die Woche"
"Alles öffnen ist genauso falsch wie alles schließen", sagt Virologe
Intensivpflegerin Anette Segtrop mahnt unter dem Eindruck der 3. Welle zur Vorsicht: "In vierzig Jahren Berufserfahrung habe ich so etwas wie Corona nicht erlebt."
Die psychologischen und soziologischen Komponenten der Pandemie seien nicht richtig berücksichtigt worden, meint Kabarettist
Journalistin Anna Dushime von der "taz" plädiert für spätere Öffnungen: "Ich habe Angst, dass wir uns alles wieder zunichte machen."
Wer genesen und geimpft ist, soll seine Grundrechte zurückbekommen, meint Markus Feldenkirchen vom "Spiegel". Die Pandemie sei ein "Charaktertest" für die Gesellschaft: "Was habe ich denn davon, wenn ein Geimpfter nicht machen darf, was ich nicht machen darf?"
Sahra Wagenknecht, ehemals Galions- und jetzt Reizfigur in der Linkspartei, stellt ihr neues Buch und ihre Grundthese vor: Die alte Wählerschaft habe sich von linken Parteien abgewandt, weil die sich zu sehr um "Identitätspolitik" kümmern. "Das Schlimme ist, dass man damit die Rechte fördert. Die AfD profitiert, deswegen dürfen wir so nicht weitermachen."
Das ist der Moment des Abends
Welches Jahr haben wir? Auch in Monat 15 der Pandemie überdauern Argumente, die schon im Mai 2020 angestaubt klangen. In dieser Runde ist es Kabarettist Mathias Richling vorbehalten, Corona durch Vergleiche mit AIDS und der Pest (!) zu verharmlosen.
Dass man "zu wenig weiß", um "ein ganzes Land lahmzulegen", kann nur behaupten, wer zuletzt den Intensivmedizinern nicht zugehört hat - oder die Ohren vor dem ja eher Lockdown-kritischen Hendrik Streeck verschließt, der COVID als "unumstritten gefährlicher als die Grippe" und "für Ältere sehr tödlich" bezeichnet.
Richling aber findet, es werde "nur von den Infektionszahlen" gesprochen, nie von den "real Kranken", und da hat Sandra Maischberger mit Intensivpflegerin Anette Segtrop genau den richtigen Gast eingeladen. Sie betreut 22-Jährige, deren Zustand sich trotz bester Versorgung ständig verschlechtert: "Die Werte werden nicht besser, man zweifelt an den Geräten. Letztlich ist man traurig."
Eine tückische Krankheit, die auf ein kaputtes Gesundheitssystem trifft: "Eklatante Misswirtschaft" ortet Hendrik Streeck in der Pflege, die Politik habe "außer Klatschen und mal einem Bonus nichts erreicht". Segtrop prangert Privatisierung und Profitorientierung der Krankenhäuser an, die den Druck erhöhe: "Man hat Angst, dass man es nicht mehr gestemmt kriegt." Weil sich diese Probleme nicht so schnell lösen lassen, gilt für den Moment: "Die Menschen sollten sich zurücknehmen, bis die Situation beherrschbar ist."
Das ist das Rede-Duell des Abends
Sahra Wagenknecht polarisiert, vor allem in den eigenen Reihen. Ihr neues Buch "Die Selbstgerechten" bescherte ihr Rücktrittsforderungen aus der Linkspartei - und Beifall von der AfD. Bei Maischberger präsentiert sie ihre Thesen: Die gesellschaftliche Linke "isoliere" sich von den Schichten, denen es nicht gut gehe. Die akademische "Lifestyle-Linke" aus den Großstädten betreibe nur Identitätspolitik und schreibe anderen vor, "wie sie zu reden, was sie zu essen und was sie zu denken haben".
Im Buch spricht Wagenknecht von "Sittlichkeitswächtern" und "Inquisitoren", vor ihrem Auftritt hat sie offenbar Kreide gefressen - aber Maischberger konfrontiert sie mit ihrer polemischen Wortwahl: "Wen meinen Sie mit skurrilen Minderheiten?"
Offenbar Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau fühlen, diverse Genderdefinitionen gelten Wagenknecht als "Marotte", genau wie die Suche nach einem sensibleren Wort als "Zigeunersauce": "Mir ist es vollkommen egal, wie man diese Soße nennt", sagt Wagenknecht, Maischberger hakt ein: "Aber es geht ja nicht um Sie, sondern um Sinti und Roma."
Dass es Sahra Wagenknecht nicht um Sahra Wagenknecht geht, ist ein Trugschluss, ihr Buch liest sich wie ein Manifest für eine Liste Wagenknecht. Ihre eigene Partei, meint die Ex-Fraktionsvorsitzende, sei von den "Lifestyle-Linken" übernommen worden, die lieber für mehr "Diversity" kämpfen als für höhere Mindestlöhne oder höhere Unternehmenssteuern. Ein Lob an die Regie, die an diesem Punkt das Wahlprogramm der Linkspartei auf der Leinwand einblendete, es sei Sahra Wagenknecht zur Lektüre empfohlen, die ersten Punkte sind Arbeit, Mindestlohn, Rente und soziale Sicherheit. Es könnte ihr glatt gefallen, aber zur Sicherheit eine Trigger-Warnung: Der Text ist gegendert.
So hat sich Sandra Maischberger geschlagen
Bevor sich die Diskussion in abstrakten Begriffen verliert, lenkt die Gastgeberin das Gespräch auf ein aktuelles Beispiel: Die unsägliche Nachricht von Ex-Nationaltorwart Jens Lehmann über und an Dennis Aogo. "Ist das rassistisch?", will Maischberger von Wagenknecht wissen, die sich nicht festlegt, weil "Quotenschwarzer" nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber "nicht sinnvoll" gewesen sei.
Maischberger holt nun Anna Dushime in das Gespräch, um zu erfahren, was sie als schwarze Frau von dem Begriff hält: "Weder im Privaten noch öffentlich angebracht", so die diplomatische Antwort. Viel schlimmer sei jedoch die "Nicht-Entschuldigung" Lehmanns, der mit einigen Verrenkungen "die Verantwortung" übernommen hatte.
Was sich dann entspinnt, ist eine erfreulich sachliche Debatte zwischen Dushime und Wagenknecht. Die "taz"-Journalistin wirft der Linkspolitikerin vor, die Themen soziale Gerechtigkeit und Alltagsrassismus gegeneinander auszuspielen, Wagenknecht beharrt auf der "falschen Gewichtung" - und Maischberger vertagt die weitere Diskussion auf den Podcast, der nach der Sendung aufgezeichnet wird.
Das ist das Ergebnis
Soziale Gerechtigkeit spielt auch in der Pandemie eine Rolle - darauf weist Hendrik Streeck hin. In Köln-Chorweiler, dem Prototyp eines Stadtviertels mit dem Label "sozialer Brennpunkt", impft die Stadt nun ohne jede Priorisierung jeden, der möchte. "Enorm sinnvoll" findet das Streeck angesichts der beengten Wohnsituation von Familien.
In solchen Gebieten könne sich mit der Ausgangssperre auch ein Paradoxon ergeben: Wer dort die Menschen hindere, an die frische Luft zu gehen, erhöhe im schlechtesten Fall die Infektionsgefahr. Es bleibt weiterhin verdammt kompliziert.
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