Im ZDF präsentiert eine sichtlich zufriedene SPD-Chefin ihr neues Sozialstaatskonzept. Es gibt ein paar Reibereien, aber erstaunlich viel Einigkeit darüber, dass das Hartz-IV-System einer Reform bedarf. Die Sache hat nur einen ziemlich dicken Haken: Von der Union ist niemand anwesend. Und das wirkt sich auf den gesamten Talk aus.

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Was ist das Thema bei "Maybrit Illner"?

Drei Parteivorsitzende und zwei profilierte Journalisten: Eine hochkarätige Runde diskutiert bei Maybrit Illner über Hartz IV, die vielleicht umstrittenste Reform der vergangenen Jahrzehnte. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hatte 2004 unter anderem die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beschlossen.

Die Hartz-Reformen standen am Anfang eines langen Wirtschaftsaufschwungs und stark sinkender Arbeitslosenzahlen. Aber sie bedeuteten für die Betroffenen auch große soziale Härten. Für die SPD läutete die Reform einen Niedergang ein, der bis heute anhält.

Jetzt hat die Partei ein neues Sozialstaatskonzept vorgelegt, das mit vielen Bestandteilen von Hartz IV bricht. Arbeitslosengeld I soll bis zu drei Jahre fließen, Langzeitarbeitslose sollen statt Hartz IV ein Bürgergeld erhalten – ohne dass ihre Bedürftigkeit überprüft wird.

Wer sind die Gäste?

Andrea Nahles: Seit die 48-Jährige im vergangenen Jahr den SPD-Vorsitz übernommen hat, läuft es nicht rund. Am Donnerstagabend sitzt aber eine sichtlich zufriedene Parteichefin im Studio. Wohl auch, weil der Regierungspartner nicht anwesend ist, um in Punkten zu widersprechen, die in der Union strittig sind.

Die SPD erscheint mit dem neuen Konzept einig wie selten, die Umfragewerte steigen. "Ich will, dass die Arbeitswelt gerechter wird und auf der Höhe der Zeit ist", sagt Nahles.

Christian Lindner: Der FDP-Vorsitzende beklagt, die Politik kümmere sich vor allem um die Ränder der Gesellschaft: die Armen und die Superreichen. Ihm gehe es um die große Mitte dazwischen.

Er hält nichts vom neuen SPD-Konzept, vor allem, weil es teuer sei: "Die Vorstellungen der Sozialdemokraten gehen zulasten der Zukunftsfähigkeit des Landes."

Katja Kipping: Die Linke, deren Co-Vorsitzende Kipping seit 2012 ist, verdankt ihren bundesweiten Aufstieg nicht zuletzt der Kritik an den Sozialstaatsreformen. "Hartz IV steht für Angst und Armut", sagt sie.

Kippings Problem: Wenn die Sozialdemokraten mit neuen Plänen für den Sozialstaat von sich reden machen, könnten sie ihrer Partei Wähler abspenstig machen.

Markus Feldenkirchen: Der Hauptstadt-Reporter des "Spiegel" sieht bei Hartz IV Vorteile wie Nachteile. Für die SPD war die Abkehr von der Reform seiner Meinung nach aber richtig: "Das Rumgedümpele bei 15 Prozent hätte sonst nicht aufgehört."

Robin Alexander: Aus taktischen Gründen kann der Redakteur der "Welt" den neuen Kurs der SPD nachvollziehen. Inhaltlich hält er ihn aber für falsch.

Die Agenda 2010 und ihre Hartz-Reformen hätten Millionen Menschen in Arbeit gebracht, sagt er: "Dass die Agenda ein Erfolg war – wer würde das denn bestreiten?"

Was ist das Rede-Duell des Abends?

Lange bleibt die Runde auffallend brav. Dabei bietet das Thema Zündstoff. Schließlich prallen hier unterschiedliche Grundüberzeugungen über Wirtschaft, Gerechtigkeit und das Zusammenleben aufeinander.

Den Beweis dafür liefern schließlich Kipping und Alexander: Die Linken-Politikerin sieht in Hartz IV ein "System des Drohens mit der Angst": "Ich streite für eine große Lösung, die alle Menschen befreit von Existenzängsten."

Das hält der konservative Journalist Robin Alexander für naiv: Die Angst vor Arbeitslosigkeit habe es immer gegeben und werde es immer geben, glaubt er: "Ein Staat, der verspricht: Ich befreie dich von der Angst – der verhebt sich und wird nur Enttäuschungen produzieren."

Was ist der Moment des Abends?

Emotional wird es eigentlich erst, als es ums Geld geht. Andrea Nahles kann den Vorwurf, ihr Konzept nicht durchgerechnet zu haben, offenbar nicht mehr hören. Als ihre Gegenüber Unions-Positionen einnehmen und der SPD finanzielles Verantwortungsbewusstsein absprechen, erhebt sie die Stimme. "Uns muss man über staatsbürgerliche Verantwortung keine Vorträge halten", schimpft sie. Schließlich habe die SPD in der Bundesregierung Verantwortung übernommen.

Damit zielt Nahles in Richtung FDP, die vor einer Regierungsbeteiligung bekanntlich zurückschreckte. Der Vorwurf ist inzwischen reichlich ausgelutscht – aber mit ein bisschen Wut im Bauch funktioniert die SPD-Chefin einfach am besten.

Wie schlägt sich Maybrit Illner?

Illner führt souverän durch die Sendung. Ihre Fragen sind präzise – und setzen jeweils bei den Schwachstellen der Befragten an.

Die Moderatorin und ihre Redaktion müssen sich allerdings fragen lassen: Ist es sinnvoll, eine Stunde lang über eine Gruppe der Bevölkerung zu sprechen, ohne dass ein Vertreter dieser zu Wort kommt?

Was ist das Ergebnis?

In seiner jetzigen Form scheint die Stunde von Hartz IV geschlagen zu haben. Nahles und Kipping sind sich so einig wie vielleicht noch nie: Es soll weniger Sanktionen für Bedürftige geben, dafür eine Kindergrundsicherung.

Selbst Christian Linder sagt: "Ich bin sofort dafür, über Veränderungen bei Hartz IV nachzudenken." Und Journalist Markus Feldenkirchen sieht sogar einen Gewinn für die gesamte Demokratie: "Die SPD scheint wieder ein Profil zu haben nach Jahren der Profillosigkeit."

Bleibt nur die Frage: Werden all die neuen und offenbar überfälligen Ideen auch umgesetzt? Dazu bringt die Sendung wenig Neues. Ein Politiker der Unionsparteien ist nicht anwesend. Dabei haben CDU und CSU als Regierungspartner ein Wörtchen mitzureden.

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