Seit mehr als zwei Monaten gibt es eine neue Protestwelle gegen Rechtsextremismus. Gleichzeitig erreicht die AfD in Umfragen weiterhin hohe Werte und kann auf erfolgreiches Abschneiden bei den anstehenden ostdeutschen Landtagswahlen hoffen. Experten und Politiker warnen vor überzogenen Erwartungen – und sehen dennoch positive Effekte.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Max Zeising sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Etwas mehr als 100 Menschen versammelten sich am 4. April, einem Donnerstag, auf dem Marktplatz in Naumburg. Aber nicht etwa, um den 800 Jahre alten Dom zu bestaunen. Die malerische Altstadt der 30.000-Einwohner-Stadt wurde an diesem etwas wechselhaften Aprilabend aus einem ganz anderen Grund aufgesucht: Unter dem Motto "Nie wieder ist jetzt!" kamen Menschen aller Altersgruppen zusammen, um gegen Rechtsextremismus und die AfD zu demonstrieren.

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Eine Deutschland- und eine Europa-Fahne war zu sehen. Auf der Bühne sprachen ein ehemaliger Pub-Besitzer, ein früherer Schulleiter und eine junge Frau, die gerade in der Region ihr Abitur abgelegt hat. Sie alle eint die Sorge vor einem Machtzuwachs der in Teilen rechtsextremen AfD.

Die kleine Versammlung in Naumburg war Teil einer neuen Protestwelle gegen Rechtsextremismus, die sich vor mehr als zwei Monaten formiert hat. Auslöser war ein Correctiv-Bericht über eine Konferenz radikaler Rechter in Potsdam, an der auch AfD-Politiker teilnahmen. Den Recherchen zufolge stellte Martin Sellner, der als Vordenker der als rechtsextremistisch eingestuften Identitären Bewegung gilt, bei dem Treffen seinen Plan für "Remigration" vor. Das bestätigte Sellner auch der Deutschen Presse-Agentur.

Dabei ist der Begriff "Remigration" nach übereinstimmender Deutung von Experten nur ein beschönigender Ausdruck für die massenhafte Vertreibung von Menschen aus Deutschland. "Der Begriff steht beispielhaft für die Strategie der 'Neuen Rechten' wie Sellner, in der Alltagssprache die eigenen radikalen Themen über harmlos klingende Begriffsneuschöpfungen zu verankern", sagt der Rechtsextremismus-Experte und Protestforscher Alexander Leistner. "Statt von Vertreibung und Deportation spricht man von 'Remigration' – gemeint ist aber dasselbe."

Mittlerweile hat die Stadt Potsdam ein bundesweites Einreiseverbot gegen Sellner erwirkt. Der Österreicher veröffentlichte das Schreiben auf seinem X-Kanal.

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Nicht nur in den Großstädten gehen die Menschen auf die Straße

Vor allem in den ersten Wochen nach Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen gab es teils riesige Demonstrationen mit zigtausenden Teilnehmern. Mittlerweile sind die Aktionen seltener und kleiner geworden, aber sie sind nicht verschwunden – im Gegenteil.

Das Besondere: Nicht nur in den großen Städten wie Berlin und München gehen Menschen auf die Straße, sondern eben auch in vielen kleineren Orten wie Naumburg. Dort versammelten sie sich erst alle zwei Wochen, mittlerweile einmal im Monat – auch wenn es nicht mehr ganz so viele Teilnehmer sind wie am Anfang.

Experte: Proteste gegen Rechtsextremismus verstetigen sich

Protestforscher Alexander Leistner betrachtet die Entwicklung der Proteste gegenüber unserer Redaktion ganz und gar nicht negativ. "Die Ausbreitung und die Dauer von Massendemonstrationen war überraschend", sagt er. Nun befinde man sich in einer Phase der Kontinuität: "Die Proteste haben nie aufgehört, sondern verstetigen sich." Leistner erwartet, dass die Teilnehmerzahlen sogar wieder steigen werden, wenn es auf die Wahlen zugeht.

Am 9. Juni findet die Europawahl statt, außerdem werden an diesem Tag in zahlreichen Bundesländern die Kommunalparlamente neu gewählt. Im September finden dann Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern statt: Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In allen drei Ländern ist ein Wahlsieg der AfD möglich. In Sachsen und Thüringen haben die dortigen Landesverfassungsschutzämter die jeweiligen AfD-Landesverbände allerdings als "gesichert rechtsextrem" eingestuft.

AfD hat in Umfragen verloren

Damit stellt sich allerdings die Frage, was die Proteste bis jetzt überhaupt bewirkt haben – und was sie bewirken können. Zwar hat die AfD in bundesweiten Umfragen an Zustimmung verloren, aber kommt immer noch auf Werte, die deutlich über dem Bundestagswahlergebnis von 2021 (10,4 Prozent) liegen. In den drei Ländern, in denen im Herbst gewählt wird, führt die AfD sogar in den Befragungen.

Der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz lobt die Demonstrationen im Gespräch mit unserer Redaktion: "Es ist die Mitte der Gesellschaft, die dort demonstriert: Familien mit Kindern, ältere Menschen, Unternehmer, Kirchen, Gewerkschaften. Einige sind zum ersten Mal auf die Straße gegangen."

Gleichzeitig glaubt Wanderwitz nicht daran, dass die Proteste ausreichen, um einen Wahlerfolg der AfD zu verhindern. "Ich bin überzeugt davon, dass die Verluste vor allem in den alten Ländern stattgefunden haben", sagt er. Im Osten sei "höchstens ein Aufwärtstrend unterbrochen worden. Aber dass die AfD bei den Wahlen eine Niederlage erleiden wird, halte ich für ziemlich aussichtslos".

"Die große Mehrzahl der AfD-Wähler wählt die AfD, weil sie eine rechtsradikale Partei ist. (...) Diese Leute werden wir nicht mal eben schnell zurückgewinnen."

Marco Wanderwitz, CDU-Bundestagsabgeordneter

Wanderwitz ist überzeugt: "Die große Mehrzahl der AfD-Wähler wählt die AfD, weil sie eine rechtsradikale Partei ist. Das sind Menschen, die keine Demokratie und Pluralität wollen, die ein anderes Land wollen. Diese Leute werden wir nicht mal eben schnell zurückgewinnen. Daran werden auch die Demos nichts ändern."

Deshalb plädiert Wanderwitz seit Monaten für einen zusätzlichen Weg – die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens. Der CDU-Politiker führt derzeit Gespräche mit Abgeordneten aller anderen Bundestagsfraktionen außer der AfD. Sein Ziel ist, einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag für ein AfD-Verbotsverfahren beim Bundesverfassungsgericht in den Bundestag einzubringen.

Trend zu immer höheren AfD-Werten gebrochen

Auch die sächsische Grünen-Politikerin Paula Piechotta warnt gegenüber unserer Redaktion vor überzogenen Erwartungen: "Wer erwartet, dass die Proteste von heute auf morgen die AfD halbieren, der spielt indirekt den Rechtsextremisten in die Hände."

Gleichwohl hätten die Correctiv-Recherchen dazu geführt, dass der Trend zu immer höheren AfD-Werten gebrochen worden sei. Piechotta sieht weitere positive Effekte der Demonstrationen: Einerseits sei ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Sichtbarkeit geschaffen worden. Und andererseits: "Die rechte Szene ist deutlich verunsichert und hat ihre Erzählung 'Uns gehört die Straße' seitdem nicht mehr so häufig glaubwürdig nutzen können."

Tatsächlich waren kleine oder mittelgroße Orte in Ostdeutschland, etwa Bautzen oder Freiberg, in den vergangenen Jahren häufig Schauplatz von Demonstrationen, hinter denen nicht selten Rechtsextreme als treibende Kräfte standen.

Wer sich für die Demokratie einsetzt, wird angefeindet

Die Themen dieser Proteste variierten dabei: Sie richteten sich etwa gegen die Asylpolitik der Bundesregierung, später gegen die Corona-Maßnahmen und nun – teils mit russischen Flaggen – gegen die Unterstützung der von Russland angegriffenen Ukraine. Auch in diesen Orten gibt es nun wahrnehmbare Demokratie-Proteste.

Piechotta weiter: "Menschen, die sich dort für Demokratie eingesetzt haben, wurden häufig so lange drangsaliert, bis sie weggezogen sind." Auch hierfür gibt es ein Beispiel, das im vergangenen Jahr für Schlagzeilen sorgte: Zwei Lehrer aus Brandenburg hatten rechtsextreme Vorfälle an einer Oberschule in Burg öffentlich gemacht. Daraufhin wurden sie angefeindet und verließen die Schule.

Gerade in Orten, die bislang stark von rechtsextremer Präsenz geprägt waren, berichten engagierte Menschen immer wieder von Anfeindungen und Einschüchterungsversuchen. Aber auch davon, dass ihnen die Proteste neue Kraft geben. Piechotta: "Diejenigen, die noch vor Ort sind, haben bislang oft nicht den Mund aufgemacht, weil sie Angst hatten. Und die haben jetzt gesehen, dass sie gar nicht so wenige sind."

Studie: Viele Grünen-Wähler auf den Demos

Derweil ist eine Studie veröffentlicht worden, die zumindest in Zweifel zieht, dass auf den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus die komplette Breite der Gesellschaft vertreten ist. Forscher aus Konstanz haben 500 Menschen auf drei Protestveranstaltungen in Baden-Württemberg befragt: Demzufolge ordnen sich 65 Prozent der Befragten dem politischen Lager "Mitte-links" zu, nur drei Prozent "Mitte-rechts". Bei der vergangenen Bundestagswahl haben 61 Prozent die Grünen gewählt, nur acht Prozent die CDU.

Zudem sind höhere Bildungsabschlüsse und ein höherer sozialer Status stärker vertreten: 52 Prozent der Befragten gaben an, einen Fachhoch- oder Hochschulabschluss zu besitzen, nicht einmal zehn Prozent einen Haupt- oder Realschulabschluss oder gar keinen Abschluss.

Zu den Protestierenden gehören mehrheitlich gut gebildete Menschen

Und: 33 Prozent rechnen sich der oberen Mittelschicht zu, nur zehn Prozent der unteren Mittelschicht. Diese Zahlen legen nahe, dass es sich bei den Protestierenden mehrheitlich um gut gebildete, finanziell gut ausgestattete und politisch eher progressiv denkende Menschen handelt.

Besteht hier ein Ungleichgewicht? CDU-Politiker Wanderwitz sagt, er sehe zunächst einmal nichts Schlechtes darin, dass auf den Demos viele Grünen-Wähler sind. "Aber natürlich wünsche ich mir mehr CDU-Wähler", sagt er. Wanderwitz glaubt, dass sich einige Anhänger seiner Partei von dem Begriff "Demo gegen Rechts" abgeschreckt fühlten: "Denn die verorten sich selbst im demokratischen Spektrum rechts der Mitte. Denen muss ich erst einmal erklären, dass wir damit nicht gemeint sind."

"Es gibt einen gewissen Teil, der die AfD genauso schlimm findet wie die Grünen und deshalb nicht mit Grünen gemeinsam demonstrieren will. Das ist fatal, denn die einen sind Demokraten und die anderen sind keine."

Marco Wanderwitz, CDU-Bundestagsabgeordneter

Gleichzeitig nimmt Wanderwitz aber auch die CDU-Wähler selbst in die Verantwortung: "Es gibt einen gewissen Teil, der die AfD genauso schlimm findet wie die Grünen und deshalb nicht mit Grünen gemeinsam demonstrieren will. Das ist fatal, denn die einen sind Demokraten und die anderen sind keine."

Grünen-Politikerin Piechotta kann der Studie hingegen wenig abgewinnen. Sie verweist darauf, dass in Baden-Württemberg, wo die Befragungen durchgeführt wurden, die Grünen deutlich stärker sind als im Osten. Dort stellen sie mit Winfried Kretschmann auch den Ministerpräsidenten. "Das ist eine ganz andere Ausgangssituation als beispielsweise in Pirna." In der sächsischen Kreisstadt wurde im Dezember der von der AfD aufgestellte Parteilose Tim Lochner zum Bürgermeister gewählt.

"Trotzdem gehen dort viele Menschen für Demokratie auf die Straße." Piechotta ist überzeugt: "Wenn es hart auf hart kommt, müssen in dieser Frage vor allem die Konservativen stehen, denn wenn die AfD an die Macht kommen könnte, dann nur mit ihnen. Deswegen haben wir alle das größtmögliche Interesse, dass auch immer Menschen aus dem konservativen Lager mit dabei sind."

Verwendete Quellen

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