Die jüngsten Angriffe auf Politiker sind aus Sicht von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Ein Gespräch über die Verrohung von politischen Debatten und Gefahren für den "Aufschwung Ost".
Kein Ministerpräsident ist aktuell so lange im Amt wie
Am Rande des CDU-Bundesparteitags nimmt sich Haseloff Zeit für ein kurzes Interview mit unserer Redaktion. Es geht um die angespannte gesellschaftliche Stimmung in Deutschland – und die wirtschaftlichen Erfolge seines Bundeslands.
Herr Haseloff, in den vergangenen Tagen sind Politiker verschiedener Parteien Opfer von gewalttätigen Übergriffen geworden. Wie besorgt sind Sie?
Reiner Haseloff: Ich bin jetzt 34 Jahre in der Politik. In den 90er Jahren hat es im Osten schon einmal richtig geknirscht, als viele Menschen ihre Arbeit verloren haben. Die Feindseligkeit hat in den vergangenen Jahren aber ein neues Maß erreicht. Diese Verrohung, diese körperliche Gewalt gegen Politiker und alle, die anderer Meinung sind, gab es früher in der Form nicht. Das ist ein allgemeiner Kulturverfall. Ich habe das bei Demonstrationen selbst gesehen – wobei ich als Ministerpräsident besser geschützt bin als die meisten Kommunalpolitiker.
Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Natürlich spielt die AfD eine wesentliche Rolle. Sie hat eine neue Tonalität und Aggressivität in viele Debatten gebracht. Die Gesellschaft hat es nicht vermocht, sich mit Verve dagegenzustellen. Wir haben da nicht gut genug aufgepasst, manche Politiker sind auf diesen Ton sogar eingestiegen. Deutschland hat sich einer politischen Kultur angenähert, die es in den 1920ern schon einmal hatte.
Was muss jetzt passieren?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Jeder, der an dieser Demokratie mitwirkt, muss in sich gehen und sich nach seiner Verantwortung fragen: Wie sprechen wir miteinander? Wie gehen wir miteinander um? Wie kommentieren wir? Welche Schlagzeilen werden verwendet? Die gesamte Gesellschaft muss sich hinterfragen, wie der sich zuspitzenden Polarisierung entgegengetreten werden kann. Natürlich ist das Potenzial an Unzufriedenheit gerade groß, weil viele Menschen unzufrieden mit der Bundesregierung sind. Aber auch Politiker können Fehler machen, auch Politiker haben ein Recht auf Würde.
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Das Land wirkt verunsichert. Dabei entwickeln sich gerade die ostdeutschen Länder gut. Es gibt weniger Arbeitslosigkeit als noch vor zehn Jahren, neue Firmen siedeln sich an. Ist der oft versprochene "Aufschwung Ost" nicht längst da?
Ja, er ist Wirklichkeit geworden. Wir haben eine enorme Liste an Investitionen, die wirklich nachhaltig sind. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs erleben wir aber auch einen starken Druck auf die Strukturen, die wir nach der Wiedervereinigung aufgebaut haben.
Wie meinen Sie das?
Die Chemieindustrie ist in Ostdeutschland aus den Altlasten der DDR komplett neu entstanden. Die aktuellen Energiepreise sorgen dort für großen Druck. In Sachsen-Anhalt ist die Industrieproduktion 2023 gesunken. Wir haben also in manchen Branchen eine positive Entwicklung, aber in anderen verlieren wir Arbeitsplätze. Es findet eine globale Umsortierung statt. Viele Unternehmen haben keine Planungssicherheit. Sie stellen sich die Frage, ob man in Deutschland noch sicher Millioneninvestitionen tätigen kann.
Was müsste die Politik unternehmen, um diese Sicherheit zu garantieren?
Der Ukraine-Krieg trifft uns alle hart, darauf haben wir in Deutschland nur sehr bedingt Einfluss. Wichtig wäre aber, dass ausreichend Energie auf dem Markt verfügbar ist. Stattdessen hat die Bundesregierung die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet. Wir füllen unsere Lücken jetzt mit Importen und belasten damit die europäische Energieversorgung.
Aus der CDU kommt immer wieder scharfe Kritik an der Ampelkoalition in Berlin. Dabei hat die Bundesregierung zuletzt massiv in Industrieansiedlungen in Ostdeutschland investiert. Für die Ansiedlung des Intel-Werks in Ihrer Landeshauptstadt Magdeburg gibt es vom Bund Subventionen von 9,9 Milliarden Euro.
Ich habe mit Bundeskanzler Olaf Scholz und mit Wirtschaftsminister Robert Habeck in dieser Sache gut zusammengearbeitet – wie übrigens zuvor schon mit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Sie haben diesen Prozess schließlich begonnen. Das Projekt ist auch für eine Landesregierung harte Arbeit. Es geht hier aber um ein Projekt von europäischer Bedeutung.
Inwiefern?
Die Förderung der Chip-Industrie ist ein europäischer Ansatz. Es geht dabei auch um unsere Sicherheit – denken Sie daran, wie wichtig Computerchips auch für den militärischen Bereich sind. Die gesamte Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten hat festgestellt: Nur zehn Prozent aller Computerchips weltweit werden in Europa hergestellt. Wir sind sehr abhängig von Asien. Deswegen hat die EU einen europaweiten Wettbewerb um Standortinvestitionen eröffnet. 60 Standorte haben sich beworben – und Magdeburg hat sich mit überzeugenden Standortfaktoren durchgesetzt.
Über den Gesprächspartner
- Reiner Haseloff wurde in Wittenberg geboren, wo er heute noch lebt. Er studierte Physik und arbeitete nach der Wiedervereinigung unter anderem Direktor des Arbeitsamts Wittenberg. 2002 ging er in die Landespolitik von Sachsen-Anhalt. 2006 wurde er Minister für Wirtschaft und Arbeit in seinem Bundesland, 2011 dann Ministerpräsident.
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