Die Bundeswehr führt die Kampfgruppe an der NATO-Ostflanke in Litauen. Ihr Kommandeur erzählt unserer Redaktion von Ängsten der Einheimischen und Bedenken seiner Soldaten. Und er erklärt, wie sich der Gefechtsverband zusammensetzt.

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"Keiner weiß, was in den Köpfen von Alexander Lukaschenko und von Wladimir Putin vor sich geht." Oberst Wolfgang Schmidt spricht sachlich. Der 52-Jährige ist seit Februar 2023 Kontingentführer des deutschen Anteils der enhanced Forward Presence (eFP) in Litauen, einer multinationalen Mission, die seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 der Sicherung der baltischen NATO-Mitgliedstaaten dient.

Russland greift Ukraine an: NATO verstärkt ihre Ostflanke

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 wurden die multinationalen Kampftruppenverbände an der NATO-Ostflanke nochmals verstärkt. Der von Deutschland geführte Gefechtsverband, die "eFP Battlegroup", ist im Auftrag des transatlantischen Verteidigungsbündnisses mit rund 1.600 Soldatinnen und Soldaten in Rukla stationiert - unweit der litauisch-belarussischen Grenze.

Es läge an diesem Kampfverband, der in eine litauische Brigade (bis zu 4.500 Soldaten) integriert ist, belarussische oder russische Truppen aufzuhalten, während der NATO-Bündnisfall in Kraft treten würden. Es klingt wie ein unwirkliches Szenario - eines jedoch, das nach dem russischen Überfall auf die Ukraine möglicher denn je wirkt.

Bundeswehr in Litauen: An der Grenze zu Belarus

"Wenn Sie mit den Litauern reden, sind sich diese der Bedrohung bewusst. Gerade wegen Kaliningrad. Aber auch aufgrund der Grenze mit Weißrussland", erzählt Schmidt unserer Redaktion: "Als Militär schaue ich auf geschichtliche Linien. Litauen und Russland, früher die UdSSR, haben eine recht lange Zeit hinter sich, die nicht unbedingt von gegenseitiger Liebe erfüllt war. Das Bewusstsein, dass sie durch den Vorgängerstaat Russlands besetzt waren, ist in Litauen sehr präsent."

Mehr noch: Das Misstrauen ist seit Jahrhunderten überliefert. In den Nordischen Kriegen gegen Schweden (1700 bis 1721) verwüsteten Truppen von Zar Peter der Große Teile des Baltikums. Von 1807 bis 1918 gehörte Litauen zum Russischen Zarenreich, ehe es erstmals unabhängig wurde. 1939 vereinbarten die russisch geprägte Sowjetunion und Nazi-Deutschland, dass das Baltikum unter den Einfluss Moskaus kommt.

"Die Gebiete wurden nicht friedlich, sondern gewaltsam annektiert. Hier herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände", erklärt der Historiker Klaus Gestwa (Uni Tübingen) in der ARD-Doku "Das Rote Imperium": "Es kam zu Säuberungs- und großen Deportationswellen." Am 3. August 1940 wurde Litauen zur sowjetischen Republik erklärt und 1944 nach dem Einmarsch der "Roten Armee" im Zweiten Weltkrieg wieder der Sowjetunion einverleibt.

Litauen und Russland: Misstrauen mit langer Geschichte

"Die litauische Regierung war eine reine Marionette und hat nur Moskaus Befehle ausgeführt. Das litauische Volk betrachtete sich als autonom und sah sich immer im Recht auf einen eigenen, unabhängigen Staat", erzählt der litauische Bürgerrechtler Tomas Venclova in der ARD-Doku. Der heute 85-jährige Dichter war Mitglied der Bürgerrechtsbewegung "Helsinki-Gruppe", die in den 1970er Jahren vom sowjetischen Geheimdienst KGB verfolgt wurde.

Bundeswehr-Oberst Schmidt ist heute überzeugt davon, dass die NATO-Präsenz für ein Gefühl von Sicherheit sorgt. Er erzählt von einer Gedenkveranstaltung: "Es war, wie soll ich sagen, eine andere Atmosphäre als in Deutschland. Die Leute klatschen, wenn wir mit der deutschen Fahne und der NATO-Fahne zu sehen sind." Die NATO ist in Vorleistung gegangen. Die Bundeswehr stellt sämtliche Kampfpanzer der Battlegroup, laut ZDF acht moderne Leopard 2. Auch die Artillerie-Komponente kommt in Form der Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland.

Die genaue Anzahl will Schmidt aus taktischen Gründen nicht verraten. Bekannt ist, dass die Bundeswehr im Februar 2022 sechs Panzerhaubitzen nach Rukla verlegt hat. Hinzukommen laut Schmidt Schützenpanzer vom Typ CV 90 der Niederländer und der Norweger. Die kroatische Kompanie sei mit dem Schützenpanzer Patria ausgestattet, erzählt er: "In der Summe haben wir einen schlagkräftigen Verband."

NATO an Ostflanke: Litauen braucht militärische Hilfe

Es ist militärische Hilfe, die die Litauer offensichtlich benötigen. Laut "Global-Fire-Power-Index" verfügt ihre Armee bei rund 2,8 Millionen Einwohnern gerade mal über 16.000 aktive Soldaten, ohne einen einzigen Kampfpanzer. Auch deshalb bilden die Litauer in einer Art Bürgerwehr Zivilisten am Maschinengewehr aus, was der ZDF-Beitrag "Rukla - Momentan keine Feindsicht" dokumentiert.

Schmidt verweist auf die zusätzliche Kampftruppenbrigade, die die Bundeswehr "exklusiv für Litauen in der Bundesrepublik vorhält" - ein 4.500 Mann starker Gefechtsverband, dessen Verbindungselement bereits in Litauen ist. "Die Brigade kann verlegt werden, wenn es notwendig werden sollte", erzählt Schmidt unserer Redaktion. Und, dass im Ernstfall die Battlegroup voll einsatzfähig sei, um im Verbund mit der litauischen "Iron Wolf"-Brigade zu operieren.

Von der Front ans Kinderbett: Sechsjähriger glaubt an einen Traum

Der Vater des sechsjährigen Stanislav verteidigt die Ukraine als Soldat seines Landes gegen russische Angriffe. Dass er plötzlich vor seinem Bettchen stehen würde, um ihn zu wecken und zu umarmen, ahnt Stanislav nicht. Er hält die Situation für nicht real.

Mehr NATO in seinem Land fordert der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis (41 Jahre). Sein Name ist eng mit der staatlichen Souveränität verbunden. Großvater Vytautas Landsbergis (90) hatte als Vorsitzender der Bürgerbewegung "Sajudis" am 11. März 1990 die Unabhängigkeit erklärt. Enkel Gabrielius verweist immer wieder auf das, was dann geschah: Am 13. Januar 1991 kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen litauischen Demonstranten und sowjetischen Panzern.

14 Menschen wurden getötet, mehr als 1.000 verletzt - die Abspaltung verhinderte das nicht. Sorgen macht heute neben Lukaschenkos Panzern die russische Exklave Kaliningrad, eingebettet zwischen Ostsee, Litauen und Polen. Hier liegt die Baltische Flotte des Kreml, samt Bodentruppen.

Ukraine-Krieg: Russische Verbände in Kaliningrad stationiert

Schmidt erzählt: "In Kaliningrad waren vor Beginn des Ukraine-Krieges recht viele russische Verbände stationiert. " Laut dem US-amerikanischen Magazin Foreign Policy sank die Zahl russischer Soldaten in Kaliningrad und vor Südfinnland wegen der hohen Verluste in der Ukraine jedoch von 30.000 auf 6.000.

Ob seine Leute Angst haben? "Wer als Soldat keine Angst hat, macht was falsch. Wer mir als Soldat erzählt, er oder sie habe keine Angst, da hätte ich Bedenken", sagt der Oberst. "Die Angst war im Februar letzten Jahres ganz extrem zu spüren. Keiner wusste wirklich: Was hat Russland vor?"

Verwendete Quellen:

  • Telefon-Interview mit Bundeswehr-Oberst Wolfgang Schmidt, Brigadekommandeur bei der enhanced forward battlegroup lithuania
  • ardmediathek.de: Das Rote Imperium
  • zdf.de: Rukla - Momentan keine Feindsicht
  • globalfirepower.com: 2023 Lithuania Military Strength
  • tagesspiegel.de: Russland zieht offenbar Einheiten von Nato-Grenze ab
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