In den vergangenen zwei Jahren hat die Europäische Union Sanktionen gegen Russland erlassen – in einer historisch zuvor ungekannten Größenordnung. Was haben die Pakete bewirkt? Eine kritische Bestandsaufnahme.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Busch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Europäische Union gilt als etwas schwerfälliges Konstrukt. Große Schritte kann der Verbund aus 27 Staaten nur gehen, wenn sich alle einig sind. Bei einem Thema hat die EU allerdings in den vergangenen Jahren wahrlich Stärke gezeigt. In historisch einmaligem Ausmaß hat sie in den vergangenen zwei Jahren Sanktionen gegen Russland verhängt.

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Seit der russischen Invasion in der Ukraine wurde in Brüssel ein Paket nach dem anderen geschnürt. Um nur einige Beispiele zu nennen:

  • Spitzentechnologie-Produkte, bestimmte Fahrzeuge und Maschinen, Technologien der Energiewirtschaft, aber auch Chemikalien und Luxusgüter dürfen nicht von der EU nach Russland exportiert werden.
  • Verboten ist der Import aus Russland von Rohöl, Kohle, Stahl, Gold und Diamanten, aber zum Beispiel auch von Holz und Zement, Kaviar, Wodka und Zigaretten.
  • Die Vermögenswerte von hochrangigen russischen Politikern. Militärs und Oligarchen in Europa sind eingefroren, Transaktionen mit der russischen Zentralbank verboten.
  • Den Luftraum für russische Flugzeuge hat die EU gesperrt.

Insgesamt zwölf Sanktionspakete hat die EU auf den Weg gebracht, Nummer 13 könnte bald folgen.

Ein zentrales Ziel hat Europa nicht erreicht: Es hat Russland nicht dazu gebracht, den Angriffskrieg gegen das Nachbarland zu stoppen. Im Gegenteil: Seit zwei Jahren steht die Ukraine unter Dauerbeschuss, Putins Kriegskasse ist gefüllt – und die russische Wirtschaft ist den dortigen Behörden zufolge 2023 um 3,6 Prozent gewachsen. Während sie in Deutschland zuletzt geschrumpft ist.

Was aber haben die Sanktionen gebracht? Die Antwort ist wie so häufig kompliziert.

"Enorme Verunsicherung" in Unternehmen

Auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheinen mag: Die Sanktionen des Westens gegen Russland sind weitreichend und lückenhaft zugleich. Weitreichend sind sie, weil sie große Teile des Handels mit Russland lahmgelegt haben. Das gilt auch für Geschäfte, die offiziell noch erlaubt wären.

Banken würden zum Teil eine "Overcompliance" betreiben, sagt der Frankfurter Rechtsanwalt Viktor Winkler im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das heißt, sie gehen über das hinaus, was noch rechtlich erlaubt wäre. Damit sind ganz viele Geschäfte faktisch nicht mehr möglich."

Winkler ist Sanktionsexperte und hat den Bundestag zum Sanktionsdurchsetzungsgesetz beraten. Er nimmt bei Unternehmen zum Teil eine "enorme Verunsicherung" war: Die EU habe Maßnahmen verkündet, ohne die Wirtschaft gewissermaßen an die Hand zu nehmen.

"Der Staat müsste klare Vorgaben für die deutsche Wirtschaft machen, damit Unternehmen wissen: Auch wenn ich kein Russland-Geschäft habe: Bis zu welchem Glied muss ich meine Lieferketten überprüfen und was genau wäre ein Verstoß gegen die Sanktionen?", findet Winkler.

Hinzu kommt: Unternehmen können vor den Gerichten der Europäischen Union klagen, wenn sie sich durch die Sanktionen unfair behandelt fühlen: Warum ist der Export von Produkt A erlaubt – und der von Produkt B verboten? Die Liste der verbotenen Ein- und Ausfuhren ist länger und länger geworden.

Wenn Sanktionen zerklüftet, ungeordnet oder gar willkürlich erscheinen, werden sie nach Einschätzung von Winkler jedenfalls juristisch angreifbar – auch wenn die Zahl der Verfahren bisher offenbar gering ist. Möglicherweise schrecken Unternehmen auch aus Reputationsgründen davor zurück, sich den Rückweg in ein Russlandgeschäft einzuklagen.

Schlupflöcher und Umwege

Nun zum zweiten Befund: Die Sanktionen sind gleichzeitig lückenhaft. Schließlich wurden sie nicht von der ganzen Welt verhängt, sondern vor allem von westlichen Staaten: von der Europäischen Union ebenso wie von Großbritannien, den USA, Kanada, Australien oder Japan.

Diese Länder haben aber zum Teil unterschiedliche Strafmaßnahmen auf den Weg gebracht – das gilt besonders für die sogenannten Einzellistungen, also Sanktionen gegen bestimmte Personen oder Unternehmen. Jurist Viktor Winkler sagt, dass nur etwa die Hälfte dieser Listungen deckungsgleich sind. Einzelne Oligarchen werden also von manchen Regierungen sanktioniert, von anderen dagegen nicht. "Das hätten die Staaten besser koordinieren müssen", findet Winkler.

Ein weiteres Problem: Die klassischen Industrieländer mögen zwar einen großen Teil der Weltwirtschaft ausmachen. Doch viele Staaten beteiligen sich an den Sanktionen nicht: China, Indien, die Türkei beispielsweise. Und viele Nachbarstaaten Russlands.

Russland kann sich Güter also auch über Umwege besorgen. Nicht überraschend sind daher Zahlen des Statistischen Bundesamts zum Handel Deutschlands mit den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion: Die Summe der Exporte in die sogenannten GUS-Staaten (ohne Russland) ist zwischen Januar und Oktober 2023 um 30 Prozent gestiegen.

Die deutsche Achillesferse: Fossile Energien

Eine besonders einschneidende Entscheidung in den Wirtschaftsbeziehungen geht nicht auf die EU, sondern auf Russland selbst zurück: Nachdem Brüssel die ersten Sanktionen verhängt und die ersten Waffen an die Ukraine geliefert hatte, stoppte der Staatskonzern Gazprom im September alle Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1. Europa selbst hatte sich einen vollständigen Stopp der Importe zuvor nicht getraut.

Aus deutscher Sicht ging die Sache aber besser aus als befürchtet. Ein Einbruch der Wirtschaftsleistung habe nicht stattgefunden, sagt der Ökonom Thieß Petersen von der Bertelsmann-Stiftung. "Das war einerseits eine Folge der Sparanstrengungen und wohl auch des milden Winters, andererseits ist es gelungen, alternative Zulieferer zu finden", so Petersen im Gespräch mit unserer Redaktion.

Allerdings hat auch Russland den weitgehenden Wegfall der Öl- und Gasexporte verkraftet: Es liefert seine fossilen Rohstoffe jetzt in andere Staaten, die keine Sanktionen verhängt haben. Europa ist darauf sogar angewiesen. Denn käme gar keine russische Energie auf den Weltmarkt, würde sich das Angebot verknappen – und die Preise würden weltweit steigen. "Fossile Energie bleibt die Achillesferse der deutschen Wirtschaft", sagt Thieß Petersen.

Alles gut aus russischer Sicht? Nein

Sind die Sanktionen gegen Russland aus Sicht des Westens also eher ein Misserfolg gewesen? So einfach ist es aus Sicht von Petersen nicht.
Wie schon erwähnt, hat die russische Wirtschaft den Bruch mit dem Westen auf den ersten Blick gut weggesteckt. Allerdings hat sich die Regierung in Moskau dieses Wachstum teuer erkauft: Extrem viel Geld fließt derzeit in die Rüstungsproduktion.

Dadurch fehlen zum Teil Arbeitskräfte in der Produktion von Konsumgütern – und auch auf die Preise hat diese Politik Einfluss. Die Inflation liegt in Russland bei rund sieben Prozent. "Die russische Zentralbank hat den Leitzins zuletzt auf 16 Prozent erhöht. Das ist sehr negativ für Investitionen", sagt Petersen.

"Hochtechnologien sind die Achillesferse Russlands."

Thieß Petersen

Aus seiner Sicht spielt der Faktor Zeit eine große Rolle: Je mehr Zeit vergehe, desto stärker machten sich die Sanktionen für die russische Wirtschaft bemerkbar. "Hochtechnologien sind die Achillesferse Russlands", sagt Petersen. Bei Einfuhren von Maschinen, Fahrzeugen, Produkten aus der Energiewirtschaft, Luft- und Raumfahrt kann Russland nur bedingt auf Angebote anderer Länder ausweichen. "Maschinen lassen sich natürlich länger nutzen – aber irgendwann ist der Verschleiß zu groß und eine Neubeschaffung schwierig."

Auch wenn Russland sich diese Waren über Umwege über andere Staaten beschafft, macht das die Einfuhr teurer und komplizierter. "Das Problem ist nur: Die Wirkungen dieser Sanktionen sind nur längerfristig zu spüren", sagt Petersen.

Über die Gesprächspartner

  • Dr. Thieß Petersen ist "Senior Advisor" für Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft bei der Bertelsmann-Stiftung. Er hat Volkswirtschaftslehre in Paderborn und Kiel studiert und promoviert.
  • Prof. Dr. jur. Viktor Winkler ist Rechtsanwalt in Frankfurt am Main. Er hat zuvor unter anderem in Großkanzleien in den USA und Großbritannien gearbeitet und war Head of Global Standards Sanctions bei der Commerzbank.

Verwendete Quellen

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