Deutschland und andere EU-Staaten wollen der Ukraine Waffen und Munition liefern, die sie einst in der Schweiz gekauft haben. Doch Bern verbietet das angesichts des Neutralitätsprinzips. Eine Debatte, den außenpolitischen Grundpfeiler aufzuweichen, ist längst entstanden. Warum den Schweizern ihre Neutralität so wichtig ist und wer besonderes Interesse an Lockerungen hat, erklärt Experte Laurent Goetschel.

Eine Analyse
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In der Schweiz wird gestritten – und zwar um die Neutralität. Ist sie ein Klotz am Bein oder ein traditioneller Grundpfeiler? Wie legt man sie im 21. Jahrhundert aus? Darüber sind sich die Eidgenossen uneinig. Der Krieg in der Ukraine, auf den das Neutralitätsprinzip direkte Auswirkungen hat, lässt die Debatte neu aufflammen.

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Waffen und Munition liefern kann Bern nicht, außerdem besteht ein Wiederausfuhrverbot für in der Schweiz gekaufte Waffen. Das heißt: Andere Länder können Schweizer Waffen nicht einfach weitergeben. Deutschland, Dänemark und Spanien würden aber genau das gerne tun. Deutschland kündigte bereits an, wegen der Schweizer Weigerung in Sachen Munitionsweitergabe künftig anderswo einzukaufen.

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Umfrage zeigt: Viele Schweizer befürworten Wiederausfuhr von Waffen

Die Lockerung der strengen Schweizer Vorschriften ist deshalb nun im Gespräch. Auf dem Tisch liegt zum Beispiel der Vorschlag, die Geltungsdauer des Wiederausfuhrverbots zu verkürzen.

Laut einer aktuellen Meinungsumfrage durch das Institut Sotomo im Auftrag der "NZZ am Sonntag" befürworten 55 Prozent die Wiederausfuhr von Waffen in die Ukraine.

Doch für viele Schweizer ist die Neutralität auch identitätsstiftend. "Wir haben die Neutralität schon lange. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg ist die Schweiz im Vergleich zu den umliegenden Ländern relativ glimpflich davongekommen", sagt der Schweizer Politikwissenschaftler Laurent Goetschel. Parallel zur militärischen Neutralität habe sich mit der Zeit eine humanitäre Tradition entwickelt, die als eine Art Ausgleich gesehen werde.

"Die außenpolitische Neutralität der Schweiz dient den eigenen Interessen des Landes. Als es beispielsweise Kriege zwischen Deutschland und Frankreich gab, wollte man so verhindern, dass das Land auseinanderfällt – denn es gibt deutsch- und französischsprechende Schweizer", erklärt er. Indem man sich einer Parteinahme enthalte, sichere man auch den Zusammenhalt. Vor diesem Hintergrund ist die Neutralität eine Klammer für die multikulturelle Schweiz. Die Zustimmung zu dem Prinzip liegt seit Jahrzehnten bei mehr als 90 Prozent.

Bank, Schweiz, Flagge, Gstaad

So unterläuft die Regierung der Schweiz die Sanktionen der EU gegen Russland

Nirgendwo sonst in der Welt liegt mehr russisches Privatkapital als auf Schweizer Bankkonten. Hinsichtlich der finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen, die die Mitglieder der Europäischen Union beschlossen haben, beruft sich die Schweiz jedoch auf ihre Neutralität und blockiert den Geldverkehr aus Russland nicht.

Uno-Blockade bremst auch Schweiz

"Andererseits wird argumentiert: Wenn ein demokratisches Land angegriffen wird und klar ist, wer Angreifer und wer Angegriffener ist, muss man diesem Land helfen können", sagt Goetschel. Befürworter forderten, die Schweiz müsse sich solidarisch zeigen, weil es sich um einen Angriff auf die Demokratie, Freiheit und Menschenrechte handele. Die Situation sei aber verzwickt. "Eigentlich lebt die Neutralität gerade davon, dass es nicht darum geht, wer angegriffen wird und wer angreift", sagt der Experte.

"Die aktuelle Debatte kommt auf, weil es sich um einen zwischenstaatlichen Konflikt handelt und die Uno nichts entscheiden kann, weil sie blockiert ist", erklärt der Experte. Wenn es eine Uno-Resolution gebe, wie es etwa beim zweiten Irak-Krieg nach dem Angriff von Saddam Hussein auf Kuwait der Fall war, gelte die Schweizer Neutralität nämlich nicht. Das ist seit den 1990er Jahren so. "Das Neutralitätsprinzip wird nicht als Konkurrenz zur kollektiven Sicherheit gesehen. Wenn die Uno etwas bestimmt, macht die Schweiz mit", sagt Goetschel.

Sanktionen der EU übernommen

Bestimmen kann die Uno derzeit aber nicht viel. Zuletzt legte Russland im UN-Sicherheitsrat beim Resolutionsentwurf zu den Ukraine-Annexionen sein Veto ein. China, Indien, Brasilien und Gabun enthielten sich.

"In der Vergangenheit hat die Schweiz auch von dem Neutralitätsprinzip profitiert, weil sie weiterhin wirtschaftliche Beziehungen mit Ländern aufrechterhielt, die mit Sanktionen belegt waren", sagt Goetschel. Heute übernehme die Schweiz aber Wirtschaftssanktionen der Uno und habe nun - nicht zum ersten Mal - auch Sanktionen der Europäischen Union übernommen.

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Nicht ohne zu zögern allerdings. Und als der Bundesrat schließlich beschloss, die Sanktionspakete zu übernehmen, reagierte ein Teil der Bevölkerung mit Besorgnis. Auch weigerte sich der Bundesrat, Schutzwesten an die Ukraine zu liefern. Begründung: als sogenannter Dual-Use-Gegenstand könnten sie auch mit aggressiver Absicht genutzt werden. ABC-Schutzwesten gegen chemische und bakteriologische Kriegführung wurden hingegen geliefert – denn die Schweiz hat eine völkerrechtliche Konvention zur Ächtung der ABC-Kriegsführung unterzeichnet.

Rüstungsindustrie macht Druck

Aber kann und darf man bei einem Angriffskrieg im 21. Jahrhundert überhaupt neutral bleiben? Das fragen sich in der Schweiz immer mehr. Dass sie keine neutrale "Insel" sein kann und als demokratischer Staat nicht im luftleeren Raum existiert, haben die meisten erkannt.

"Für eine komplette Abkehr von der Neutralität plädiert niemand. Es wird aber diskutiert, ob man in ihrer Handhabung gewisse Aufweichungen vornehmen könnte", sagt Goetschel. Druck auf die Regierung macht dabei auch die Rüstungsindustrie.

Die sieht ihre Existenzgrundlage nämlich schon seit Längerem gefährdet. "Die stärksten Befürworter kommen aber aus bürgerlich-konservativen Kreisen und sehen vor allem die Ukraine als Möglichkeit, die Rüstungsexportbedingungen zu verbessern", sagt auch Goetschel. Die Ukraine werde als Hebel genutzt, um die Exportrestriktionen aufzuweichen. Goetschel ist trotzdem skeptisch, dass ein Vorstoß Erfolg haben wird. "Ich denke nicht, dass sich viel ändern wird", sagt er.

Die Neutralität sei für die Schweizer nicht unbedingt bequem. "Zurzeit wird die Schweiz von Russland kritisiert, weil sie die Sanktionen übernommen hat und sie wird von den USA und der Ukraine dafür kritisiert, dass sie Waffenlieferungen nicht ermöglicht", sagt Goetschel.

Über den Experten: Prof. Dr. Laurent Goetschel lehrt Politikwissenschaft an der Universität Basel und ist Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung.

Verwendete Quellen:

  • zdf.de: Russland legt Veto ein: Resolution des UN-Sicherheitsrats blockiert
  • deutschlandfunk.de: Debatte um Schweizer Neutralität - "Wir sind keine Insel"
  • tagesschau.de: Die Schweizer Neutralität bröckelt
  • tagesschau.de: "Neutralität - um Geschäfte zu machen"
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