Martin Schulz warnt vor einer angeblich neuen Flüchtlingskrise und will sich des Problems prompt annehmen. Alles nur Strategie vor der Bundestagswahl 2017? Oder sind die Zahlen wirklich besorgniserregend? Unsere Redaktion fragte bei einem Migrationsforscher nach.
Hochbrisant sei die Lage.
"Wenn wir jetzt nicht handeln, droht sich die Situation zu wiederholen", sagte der SPD-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2017.
An diesem Donnerstag wolle er mit Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni über das Problem sprechen, erklärte Schulz und meinte in Richtung Kanzlerin
Doch was sagen die Zahlen? Kommt eine neue Flüchtlingskrise? Unsere Redaktion sprach mit Migrationsforscher Prof Dr. Belachew Gebrewold.
Steht uns eine neue Flüchtlingskrise bevor?
"Nein, ich gehe nicht davon aus. Die Umstände 2015 waren ganz andere als heute. Die Situation hat sich durch die Schließung der Balkanroute verändert. Damals war die Balkanroute ausschlaggebend und nicht die Mittelmeerroute", meint Gebrewold, der am MCI Management Center Innsbruck zu Migration und Flüchtlingsfragen forscht.
Der Fluchtweg über das Mittelmeer sei schließlich viel gefährlicher, meint er. "Auch, wenn es die letzten Wochen wiederholt Tage gab, an denen bis zu 5.000 Flüchtlinge in Italien ankamen. Ein Vergleich: Letztes Jahr hatten wir im Juli bis zu 250.000 Flüchtlinge. Dieses Jahr haben wir bisher nicht mal 112.000 Flüchtlinge über die Mittelmeerroute", schildert er. "In diesem Jahr liegen wir also nicht mal bei der Hälfte."
Gebrewold beruft sich dabei auf Zahlen und Veröffentlichungen staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen wie den EU-Observer, die Internationale Organisation für Migration (IOM) oder die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR.
Auf welche Indizien und Fakten beruft sich Martin Schulz?
Gebrewold hat eine These: "Die Bundestagswahl spielt eine massive Rolle. Es wird für ihn schwierig werden, die Kanzlerin zu überholen", meint der Wissenschaftler.
"Die Migration wiederum ist ein zentrales politisches Thema. Viele Menschen in Deutschland und Österreich verbinden damit Ängste."
Parteien oder Parteifunktionäre würden solche Ängste nicht selten ausnutzen, sagt er. "Um Wahlen zu gewinnen, muss man in der Politik verschiedene Strategien nutzen.
Wenn Migration ein Unsicherheitsfaktor ist, geht es darum, Sicherheit zu vermitteln." Dennoch ist der Migrationsforscher verwundert: "In Österreich und anderen Ländern wird das in der Regel von rechtspopulistischen Parteien ausgenutzt."
Wie drängend ist die Flüchtlingsfrage?
Gebrewold bezeichnet diese als "vehement". Das Problem sei seinen Beobachtungen zufolge, dass die EU-Staaten nicht zusammenarbeiten.
"Die Osteuropäer sehen das nicht als ihr Problem. Selbst für die Süditaliener ist es nicht dieses große Thema wie für die Norditaliener, weil die Migranten in der Regel nicht im Süden Italiens bleiben. Es sei denn, sie arbeiten auf den Plantagen", erklärt er. "Wohlhabende Staaten und wohlhabende Regionen sind ihre Ziele."
Die zwischenzeitlich auf freiwilliger Basis besprochene Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Italien funktioniere jedoch überhaupt nicht, erzählt er. "Bis vor zwei Wochen hat Österreich aus dem Prinzip der Umverteilung keinen einzigen Flüchtling aufgenommen, Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt meinen Quellen zufolge 200 bis 300 Flüchtlinge daraus aufgenommen."
Wo wird die Flüchtlingsproblematik weiter zunehmen?
Der Fokus dürfe nicht zu sehr auf Libyen liegen, meint Gebrewold. Die meisten der Flüchtlinge treten die gefährliche Reise über das Mittelmeer bekanntlich von dort an.
Die Regionen, in denen geflüchtet wird, müssten dagegen eine viel größere Beachtung finden, sagt er: "Der ugandische Staat versucht etwa nachhaltig eine Infrastruktur für Flüchtlinge aufzubauen, die aus dem Südsudan dorthin fliehen. Damit die Flüchtlinge dort kleine Unternehmen und Geschäfte aufbauen können. Das ist der Weg", schildert er.
"Libyen ist viel unsicherer für die Flüchtlinge als die jeweiligen Regionen, in denen sie fliehen: zum Beispiel aus Somalia nach Äthiopien, von Somalia nach Kenia, aus Nigeria nach Niger. Es braucht mehr Investitionen, dass die Flüchtlinge dort Arbeit finden. Alles andere hat uns die letzten 50 Jahre nicht weit gebracht."
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