• Die Türkei fällt auf der außenpolitischen Bühne derzeit mit Krawall und aggressiven Aktionen auf.
  • Als Nato-Mitglied blockiert sie die Beitritte von Finnland und Schweden, in Syrien fliegt Ankara Luftangriffe auf die Kurden.
  • Welche Strategie steckt dahinter? Türkei-Experte Rasim Marz erklärt Erdogans Kalkül und einen wichtigen Termin im kommenden Jahr – abseits der Wahlen.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wer hierzulande die letzten Nachrichten über Erdogan liest, der bekommt schnell folgenden Eindruck: Am Bosporus sitzt ein Krawall-Macher. Denn die Schlagzeilen lauten zum Beispiel "Nato-Ringen mit Erdogan", "Erdogan kündigt neuen Einmarsch an" und "Greift die Türkei Griechenland an?". In Sachen Außenpolitik scheint der türkische Staatspräsident auf Krawall gebürstet zu sein.

Stimmt der Eindruck? Türkei- und Nah-Ost-Experte Rasim Marz bestätigt zumindest: "Die türkische Außenpolitik charakterisiert sich derzeit durch eine sehr expansive Außenpolitik." Sie schließe an die Politik der letzten Jahre an, die sich auf die Wiederherstellung eines imperialen Status konzentriere. Die außenpolitischen Aktionen des türkischen Präsidenten hätten deshalb einen gemeinsamen Nenner: "Die Türkei will wieder eine Weltmacht-Stellung haben", erklärt Marz.

Machtvakuum füllen

Dabei ist es kein Zufall, dass dieser Wunsch gerade jetzt wieder stärker aufflammt. "Im November jährte sich der Untergang des Osmanischen Reiches zum 100. Mal. Das spielt auch in der gegenwärtigen Politik eine Rolle", ist sich Marz sicher. Über Parteidifferenzen hinweg bestehe im national-bürgerlichen bis konservativen Bereich der Wunsch nach mehr Bedeutung in der Weltpolitik.

"Wir finden aktuell in der Welt eine geostrategische Lage vor, die zu großen Verschiebungen führt", beobachtet Marz. Mit dem Rückzug der USA aus dem Nahen Osten versuche die Türkei das entstandene Vakuum zu füllen. "Dies ist vor allem in der Kurden-Politik zu beobachten", kommentiert der Experte.

Fokus auf Kurden-Politik

Das kurdische Autonomie-Projekt in Syrien ist Erdogan schon seit langem ein Dorn im Auge. Seit Wochen fliegt die Türkei massive Angriffe entlang der Grenze und im Landesinneren. In Deutschland gab es bereits mehrfach Proteste gegen die Luftangriffe auf die halbautonomen Gebiete. Erdogan rasselte auch immer wieder mit den Säbeln und kündigte eine Bodenoffensive an.

"In der Türkei gibt es unter den konservativen Kurden einen sehr großen Unterstützerkreis für Präsident Erdogan", beobachtet Marz. In Bezug auf den linken Flügel, der sich auch in den terroristischen Organisationen widerspiegele und einen Kampf gegen den türkischen Staat führe, finde eine überregionale Zusammenarbeit statt. "Der Iran ist derzeit militärisch offensiv gegen die Organisationen im Nord-Irak unterwegs, die Türkei ebenfalls. Man möchte separatistische Bestrebungen der kurdischen Terrororganisationen niederdrücken", erläutert Marz.

Auf der außenpolitischen Bühne punkten

Die türkische Außenpolitik habe für Präsident Erdogan immer eine wichtige Rolle gespielt, um seine Macht zu festigen und eine staatsmännische Rolle einzunehmen. "Er hat auch seine Führungsrolle innerhalb der Türkei damit manifestiert", weiß Marz.

Die türkische Außenpolitik habe im letzten Jahrzehnt, trotz Anspannung und Abkühlung der Beziehungen zu einzelnen Ländern, insbesondere im Nahen Osten und zur EU, sehr erfolgreich operieren können. "Sie sollen nun repariert werden, zum Beispiel in Bezug auf Ägypten, Saudi-Arabien und Israel. Der diplomatische Austausch wird hier intensiviert", beobachtet Marz.

Die Außenpolitik der Türkei konzentriere sich außerdem nicht nur auf den Nahost-Bereich, sondern auf alle ehemaligen Territorien des Osmanischen Reiches, also etwa auch auf den europäischen Balkan, Afrika und Teile Asiens.

Erdogan: "Jahrhundert der Türkiye"

"Da hat die Türkei in den letzten zehn Jahren massive Reserven entwickelt und aufgerüstet, etwa durch den Export von Rüstungsgütern oder mit militärischen Ausbildungsprogrammen in Dritte Welt-Länder", sagt Marz. Man habe zum Beispiel auch militärische Stützpunkte in Afrika errichtet, das habe eine große Strahlkraft auf die Innenpolitik – gerade in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

Die Inflation hatte in der Türkei zuletzt immer wieder neue Rekordwerte erreicht. Im Oktober lagen die Verbraucherpreise 85,5 Prozent höher als im Vorjahr – der höchste Anstieg seit 25 Jahren. In Wahlkampfzeiten keine guten Voraussetzungen für den türkischen Präsidenten. Er lenkte zuletzt die Aufmerksamkeit deshalb auf etwas anderes und rief die Bevölkerung anlässlich des kommenden 100. Tages der Republik dazu auf, das "Jahrhundert der Türkiye" einzuläuten.

Nostalgie in Bezug auf Merkel

"Die Türkei soll unter die zehn führenden Staaten weltweit kommen und die Tradition der osmanischen Großmacht fortsetzen", sagt Marz. Die Probleme in Innenpolitik, Wirtschaft und im Finanzsystem wolle die Türkei dabei vor allem mit erneuerbarer Technologie, Rüstungsexporten und Tourismus bewältigen.

Der Westen stehe in der Türkei derweil als unzuverlässiger Partner da. "Bis vor wenigen Jahren war Deutschland noch der verlässlichste Partner, aber das hat sich immer weiter abgekühlt", sagt der Experte. So weit, dass Präsident Erdogan eine gewisse Nostalgie entwickelt habe, was die Person Angela Merkel betreffe. "Die derzeitige deutsche Politik wird in der Türkei scharf angegriffen, weil sie eine Abkehr der Merkel'schen Politik eingeleitet hat, die für die Türkei immer verlässlich war", weiß er.

Abhängigkeiten auf beiden Seiten

Die Türkei weiß, dass sie kein freies Spiel hat. "Sie ist in hohem Grad von Russland und dem westlichen Nato-Bündnis abhängig", erinnert Marz. Das westliche Nato-Bündnis könne mit Blick auf sein Sicherheitskonzept aber wiederum auch nicht auf die Türkei als militärisch starkes Land an der Südflanke verzichten.

"Die Türkei positioniert sich als Nato-Mitglied zwischen den Fronten", sagt Marz über die ambivalente Position der Türkei. Sie wolle die Sanktionen gegen Russland nicht mittragen, sei auf der anderen Seite aber wiederum ein wichtiger Bündnispartner für den Atlantik-Pakt gegen eine russische Vormachtstellung, insbesondere im Schwarzen Meer. "Die Türkei hat schließlich selbst ein Interesse daran, dass Russland im Ukraine-Konflikt an Macht verliert, um einer Gefahr im Norden zu entgehen, auch in Syrien", kommentiert er.

Neue Spielräume eröffnet

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland, die sich auch auf die persönliche Beziehung zwischen Präsident Erdogan und Putin zurückführen ließen, seien von partnerschaftlicher Kooperation geprägt.

"Die Türkei hat aber aufgrund ihrer Historie und Tradition den russischen Erzfeind im Norden immer im Visier gehabt, auch während des Kalten Krieges", merkt Marz an. Einer sowjetischen Übermacht im Norden etwas entgegenzustellen, sei einer der größten Beweggründe für die Türkei gewesen, in die Nato einzutreten. "Die Kooperation zwischen Ankara und Moskau eröffnet der Türkei mehr Spielräume", beobachtet Marz.

Denn Präsident Erdogan schalte sich als Vermittler in den Ukraine-Krieg ein. Mit zeitweiligem Erfolg: Im Sommer gelang es ihm zu vermitteln, dass sich die Ukraine und Russland auf einen Korridor zur Weizenausfuhr einigten. Wertegeleitet war das Engagement in dieser Frage kaum, eher am Pragmatismus orientiert. Denn Erdogan weiß um seine Rolle für Putin: Er ist für logistische Wege in den Westen aktuell unausweichlich.

Über den Experten: Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.

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