1950 gegründet, 70 Jahre später noch immer in der Kritik: Nach Abhöraffären, Wirbel um Doppelagenten und dem NSU-Skandal fordern viele die Abschaffung der Behörde. Zu recht?

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Abhöraffären, Doppelagenten, Sehschwäche auf dem rechten Auge: Seit seiner Gründung vor 70 Jahren ist der Verfassungsschutz immer wieder von Skandalen gebeutelt gewesen.

Aber auch in der jüngsten Vergangenheit stand die Institution mehrfach in der Kritik: So musste Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nach Äußerungen zurücktreten, in denen er "Hetzjagden" in Chemnitz anzweifelte. Und die Fehleinschätzung zum Mobilisierungspotential rechter Gruppierungen bei der Berliner Demonstration gegen Corona-Maßnahmen diente Kritikern erneut als Anlass, die Abschaffung des Verfassungsschutzes zu fordern.

Ein solcher Schritt wäre in jedem Fall folgenreich – doch wäre er auch gerechtfertigt? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu dem Komplex:

Was muss man zur Entstehung wissen?

Mit der Verkündung des "Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes" vor genau 70 Jahren – am 27. September 1950 – wurde im Bundestag die Einrichtung des Amtes beschlossen. Auf Basis dessen wurde im November 1950 in Köln das Bundesamt für Verfassungsschutz gegründet.

Ziel war die Schaffung eines Inlandsnachrichtendienstes zur Abwehr extremistischer Gefahren – allerdings mit der ausdrücklichen Trennung geheimdienstlicher und polizeilicher Tätigkeiten. Eine der Lehren aus der erst kurz zuvor Beendeten Nazizeit.

Dazu formulierten die westlichen Besatzungsmächte im August 1949: "Der Bundesregierung wird es gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben." Der Verfassungsschutz hatte somit von Anfang an keine Polizei-Befugnisse wie die Gestapo, Mitarbeiter sollten Informationen über verdächtige verfassungsfeindliche Tätigkeiten sammeln und auswerten.

Welche Skandale gab es?

Praktiken jenseits der Gesetze gehörten trotzdem von Anfang an zur Geschichte der Institution: So kamen 1963 durch den Whistleblower Werner Pätsch verfassungswidrige Abhörpraktiken zum Ausspähen von Bundesbürgern ans Licht. 1975 sorgte die Lauschaffäre Traube für Aufsehen: Klaus Traube, Beschäftigter in Kernkraft-Betrieben, wurde verdächtigt, im Kontakt mit gesuchten Terroristen der RAF zu stehen und deshalb in seiner Wohnung mit Abhörwanzen überwacht.

Auch Skandale um Doppelagenten und V-Männer machten Schlagzeilen: So etwa Klaus Kuron und Hans-Joachim Tiedge, die ihr Wissen mit der Stasi teilten. Und weil V-Männer in der Führungsebene der NPD tätig waren, scheiterte Anfang der 2000er das Verbotsverfahren der Partei. Dem Vorwurf, auf dem rechten Auge blind zu sein, war der Verfassungsschutz von Anfang an ausgesetzt. Nicht grundlos: Das Amt beschäftigte ehemalige Nazis und SS-Angehörige und versagte beim NSU-Komplex.

Gehört der Verfassungsschutz also abgeschafft?

Soziologe Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, meint: "In der jetzigen Form braucht es den Verfassungsschutz meiner Meinung nach nicht mehr." Der Experte sagt: "Er könnte und sollte in eine demokratischere Institution transformiert werden."

Durch die Digitalisierung gebe es mittlerweile ganz andere Möglichkeiten zu erkennen, was an demokratie- und menschenfeindlichen Bewegungen und Entwicklungen passiere. Eine Forderung nach Abschaffung kommt auch immer wieder von Politikern der Grünen und der Linkspartei.

Verbesserungsbedarf sieht auch der Politikwissenschaftler und ehemalige Verfassungsschutz-Mitarbeiter Thomas Grumke: "Wir brauchen eine solche Institution in einer wehrhaften Demokratie. Die Arbeitsweise muss aber reformiert werden."

Sogar Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan J. Kramer gibt zu, dass ein Neubau der gesamten Sicherheitsarchitektur geboten scheint: "Sie stammt nämlich noch aus der Bundesrepublik der 1970er Jahre mit ganz anderen Bedrohungsszenarien", bemerkt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Forderung nach der Auflösung des Verfassungsschutzes sei "nach den katastrophalen Fehlern und Defiziten der Vergangenheit nicht überraschend".

Man müsse sich jedoch immer fragen, wer bei einer Abschaffung der Institution die Aufgaben alternativ wahrnehmen solle. Eine Übertragung, etwa auf die Polizei, bedeute ja nicht, dass die Aufgaben nicht wahrgenommen würden und die Befugnisse nicht mehr vorhanden seien. "Sie liegen dann eben nur in anderen Händen", erinnert Kramer. Die Diskussion solle seriöser jenseits politischer Ideologien geführt werden.

Wo wird Kritik geübt, was muss sich ändern?

Quent ist sich sicher: "Bei der Prävention von Terrorismus kann man auf nachrichtendienstliche Mittel sicherlich nicht verzichten und auch die Spionageabwehr ist wichtig." Ohne sie könne man aber in den Bereichen arbeiten, die die Entwicklung von politischen Parteien, Bewegungen und Einstellungsformen beträfen. "Hier wäre eine Aufarbeitung mit journalistischen und wissenschaftlichen Methoden viel transparenter", meint der Experte.

Kritik übt Quent auch am Verfassungsschutz als vermeintliches Frühwarnsystem. "Die 'Identitäre Bewegung' war sechs Jahre in Deutschland aktiv, ehe der Verfassungsschutz sie als rechtsextrem bezeichnet hat. Auch die AfD wurde viel zu spät als in Teilen rechtsextrem eingestuft", betont er. Wissenschaftler und Journalisten hätten diese Entwicklungen viel früher attestiert.

Gefährliche Deutungshegemonie

Konsequenz für Quent: "Wir brauchen vor allem Veränderung bei der öffentlichen Information und Aufklärung." Verfassungsschutzberichte seien meist oberflächlich. Es mangele an Belegen, wie Behauptungen, jemand sei extremistisch, zustande gekommen seien. "Es ist außerdem übergriffig und überwältigend, wenn der Staat Etikettierungen vornimmt – egal ob auf der linken oder rechten Seite", so Quent.

Immer wieder führe die Deutungshegemonie des Verfassungsschutzes zu Fehleinschätzungen. In anderen Staaten sage kein eigenständiger Nachrichtendienst im Inneren, was demokratisch okay ist und was nicht. Quent findet das "nicht gesund für die öffentliche Debatte". Er würde es besser finden, "wenn die Gesellschaft faktenbasiert darüber streiten würde und nicht warten würde, bis der Staat Kategorisierungen vornimmt."

Vorschlag: Wissenschaftliches Institut

Dafür schlägt er ein wissenschaftliches Institut zum Schutz der Verfassung vor mit der Aufgabe, aus öffentlichen Quellen und unter Einbeziehung der internationalen Forschung frühzeitig und transparent über den Stand der demokratischen Kultur und über antidemokratische Bedrohungen aufzuklären und öffentliche Akteure und Behörden zu beraten.

Quent: "Vorstellbar wäre ein Sachverständigenrat, ähnlich dem Wirtschaftsweisenrat, der regelmäßig wissenschaftlich begründete Gutachten vorlegt und an dem sich Bildung, Politik, Medien und Gesellschaft orientieren."

Experte Grumke kritisiert, dass es nur eine systematische Verfassungsschutz-Ausbildung auf Bundesebene gibt: An der Fachhochschule des Bundes in Brühl werde jährlich in nur wenigen Kursen für den gehobenen Dienst ausgebildet - "das war’s". Der gesamte höhere Dienst werde einfach so eingestellt – vor allem Juristen.

"Beim Verfassungsschutz geht es nur zum einen Teil um juristische Fragen, genauso wichtig ist die Analysefähigkeit", kritisiert Grumke. IT-Spezialisten seien für den öffentlichen Dienst schwer zu kriegen, weil sie in der freien Wirtschaft das Dreifache verdienten. "Zwar zahlt der Verfassungsschutz in einigen Fällen bereits außertariflich, aber der öffentliche Dienst ist sehr zäh", sagt Grumke. Der Verfassungsschutz solle sich das richtige Personal an der richtigen Stelle endlich leisten.

Ist die Kritik einseitig?

Das würde auch Schwächen im Bereich Rechtsextremismus begegnen, wo es erhebliche Fehlleistungen gegeben habe. Grumke nennt den NSU-Skandal als Beispiel: "Die dortigen Versäumnisse sind nicht Teil eines strukturellen Rassismus gewesen oder der Tatsache geschuldet, dass die Behörde auf einem Auge blind wäre, sondern in der Regel fehlender Analysekompetenz." Die Aufarbeitung habe fehlende politische Führung, falsche Mitarbeiter an der falschen Stelle und mangelhafte Zusammenarbeit im föderalen System gezeigt.

Um Fortschritte zu erzielen, dürfe die Kritik in Zukunft nicht mehr so einseitig sein. Bei Fällen im Bereich Rechtsextremismus werde oft gefragt: "Warum hat der Verfassungsschutz nicht stärker Informationen gesammelt oder mehr an die Öffentlichkeit gebracht?", so Grumke. Dabei habe er natürlich auch Erkenntnisse, die er nicht öffentlich machen könne. "Bei Fällen im Bereich Linksextremismus ist die Empfindlichkeit oft deutlich höher und es wird viel schneller von politischen Gegnern gesprochen", findet der Insider.

Ist mehr Transparenz die Lösung?

Grumke hält die Forderung nach einfach mehr Transparenz für "nicht zielführend". Man müsse konkret sagen, wo sie ausgeweitet werden solle. Aus gutem Grund sei die Parlamentarische Kontrolle in Deutschland sehr ausgeprägt, gerade im Vergleich zu Nachrichtendiensten im Ausland.

Wer etwa sage, der Verfassungsschutz diene der Überwachung politischer Gegner, scheine nicht zu wissen, was in der Behörde gemacht wird. Grumke sagt: "Der Verfassungsschutz ist eine Behörde im Innenministerium und wird politisch geleitet. Der oberste Dienstherr aller Verfassungsschützer ist immer der Innenminister." Er entscheide zwar darüber, was Beobachtungsobjekt sei, es handele sich aber nicht um einen geschlossenen Laden.

Macht häufig überschätzt

Die Macht des Verfassungsschutzes werde häufig überschätzt, die Befugnisse seien sehr eingeschränkt. "Das parlamentarische Kontrollgremium hat in der Vergangenheit seine Befugnisse gar nicht immer ausgenutzt", erinnert Grumke. Verbesserungsbedarf bestehe aber beim Einsatz von V-Leuten, der früher oft sehr freihändig gehandhabt wurde.

Zur Forderung nach mehr Transparenz sagt Quent: "Das Grundparadox ist, dass es sich um einen Geheimdienst handelt, der an der öffentlichen Willensbildung mitwirkt – das löst auch mehr Transparenz nicht." Grumke kontert: "Es ist kein Geheimdienst, sondern ein Nachrichtendienst mit deutlich eingeschränkten Befugnissen." Der Verfassungsschutz sei zudem eine lernende Organisation: "Beispielsweise hat sich mit dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin schon viel verbessert."

Welche Herausforderungen bringt die Zukunft?

Experte Quent warnt: "Wenn der Verfassungsschutz sich nicht transformiert, sehe ich die Gefahr, dass Medienmachende, die Öffentlichkeit, Polizeibehörden, Verwaltungsämter und viele mehr sich weiterhin auf ihn als selbsterklärtes Frühwarnsystem verlassen, obwohl er das nicht sein kann."

Dadurch, dass der Verfassungsschutz nach Maaßens Versetzung in den einstweiligen Ruhestandstärker mehr nach rechts schaue, habe er in der öffentlichen Wahrnehmung Legitimität und Vertrauen zurückgewonnen – aber ohne, dass Grundwidersprüche beendet seien. "Es ist höchste Zeit zu hinterfragen, ob dieses Instrument aus der Zeit des kalten Krieges in der jetzigen Form noch seine Berechtigung hat", sagt Quent.

In Grumkes Augen bringen vor allem Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamistischer Terror in der Zukunft erhebliche Herausforderungen. Er sagt: "Die Digitale Herausforderung ist dramatisch – Propaganda und Desinformation geschehen online. Es fragt sich: Sind die Behörden personell richtig aufgestellt und haben die richtigen Befugnisse? Ich sage: Nein. Es muss einiges passieren."

Über die Experten:
Prof. Dr. Thomas Grumke ist Professor für Politik und Soziologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Nordrhein-Westfalen. Von 2004 bis 2012 war er wissenschaftlicher Referent beim NRW-Verfassungsschutz. Er publizierte das Buch "Der Verfassungsschutz. Grundlagen. Gegenwart. Perspektiven?".
Dr. Matthias Quent ist Soziologe und Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsradikalismus, Radikalisierung und Hasskriminalität. Er promovierte zum Thema "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und war Sachverständiger für Untersuchungsausschüsse des Thüringer Landtags, des Deutschen Bundestags, sowie im sächsischen Landtag und für die Stadt München.
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