Kaum sind Minister und Kanzler aus dem Sommerurlaub zurück, kommt es zum nächsten Streit in der Ampelkoalition. Die Bundesregierung kann sich nicht auf das Wachstumschancengesetz von Finanzminister Lindner einigen. Diesmal sprechen FDP-Politiker von Erpressung – und Unternehmen werfen einer Ministerin eine "Blutgrätsche" vor.

Mehr aktuelle News

Nach der Sommerpause sollte alles besser werden, das hatte sich die Ampelkoalition vorgenommen. Weniger Streit, weniger Hickhack, mehr Geschlossenheit. Oder "weniger laut, aber weiter mit Ergebnissen", wie Kanzler Olaf Scholz es ausdrückte. Gehalten hat der Vorsatz nur kurz, gleich in der ersten Kabinettssitzung der Rückfall: Familienministerin Lisa Paus (Grüne) blockiert ein Gesetz mit Steuererleichterungen für Unternehmen, um mehr Geld für Familien und Kinder rauszuschlagen.

Das sogenannte Wachstumschancengesetz mit rund 50 Steuererleichterungen für Firmen sollte die ins Stocken geratene Konjunktur ankurbeln. Sechs Milliarden Euro Entlastung für die Wirtschaft, so der Plan von Finanzminister Christian Lindner (FDP). Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) setzte noch eine Ergänzung durch und stimmte zu. Es gebe "große Einigkeit", sagte seine Sprecherin am Mittwoch.

Doch in letzter Sekunde blockierte eine Grünen-Ministerin das Vorhaben. Man könne nicht so viel Geld in die Wirtschaft stecken, aber nicht mehr in die Kindergrundsicherung zur Unterstützung von Familien mit wenig Geld, argumentierte Paus nach Angaben aus Regierungskreisen. "Wer Geld für Steuersenkungen für Unternehmen hat, hat doch wohl auch Geld für Kinder in Armut, oder?", legte die Chefin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich nach.

Finanzminister Christian Lindner und Familienministerin Lisa Paus
Gegenspieler in der Koalition: Finanzminister Christian Lindner und Familienministerin Lisa Paus. (Archivbild vom 28. Juni 2023) © dpa/ASSOCIATED PRESS/Markus Schreiber

Kindergrundsicherung als Dauerstreitthema

In der FDP ist die Rede von einem Erpressungsversuch - dabei hatte auch sie bei den Koalitionskrachs der vergangenen Monate keine weiße Weste. Auch der Streit um die Finanzierung der Kindergrundsicherung schwelt in der Ampelkoalition schon lange. Die Bundesregierung will sie noch in dieser Legislaturperiode einführen. Familien sollen so leichter an staatliche Leistungen kommen. Doch vor allem die Grünen wollen durchsetzen, dass Leistungen auch erhöht werden, um mehr gegen Kinderarmut im Land zu tun. Dafür reicht das von Lindner bewilligte Geld lange nicht aus.

Zuletzt hatte Scholz ein schriftliches Machtwort gesprochen und Paus aufgefordert, bis Ende August einen in der Regierung geeinten Gesetzentwurf vorzulegen. Dieser sei "in den letzten Zügen", sagte Paus Anfang der Woche. Bei ihrer Klausurtagung auf Schloss Meseberg wollten Kanzler und Minister darunter einen Schlussstrich ziehen.

Nun soll genau zu diesem Termin auch das blockierte Wachstumschancengesetz beschlossen werden. Im Finanzministerium geht man davon aus, dass es durchgeht – möglicherweise sogar noch erweitert um Maßnahmen für mehr Wohnungsbau. Es habe schließlich "keinerlei inhaltlichen Einwände, von keinem Ressort" gegen den Gesetzentwurf gegeben, hieß es nach der Kabinettssitzung. Hintergrund der Blockade sei einzig der Streit um die Kindergrundsicherung.

Keine einheitliche Linie bei Grünen-Ministern

Was im Finanzministerium aufstößt, ist auch, dass die Grünen offenkundig nicht mit einer Stimme sprechen. Immer wieder wird betont, dass man sich mit Habecks Wirtschaftsministerium einig gewesen sei. "Insbesondere der grüne Koalitionspartner ist nun gebeten, intern seine Prioritäten zu klären und eine gemeinsame grüne Position in die Koalition einzubringen", so der Appell. FDP-Fraktionschef Christian Dürr regte sich auf: "Dass ein Koalitionspartner intern so unterschiedliche Auffassungen bei einer so zentralen Frage hat, macht mich sprachlos."

Man hört raus: Hätten alle fünf grünen Minister das Gesetz torpediert, stünde man wohl vor einer ausgewachsenen Koalitionskrise. Doch Habeck stimmte zu, Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich nicht. Daher keine Eskalation. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai kritisierte trotzdem: "Die innere Zerstrittenheit der Grünen verhindert essenzielle wirtschaftliche Impulse, die Deutschland in der derzeitig schwierigen Lage dringend nötig hat." Paus spiele Soziales gegen die Wirtschaftskraft aus.

Wenn die Familienministerin mehr als die eingeplanten zwei Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung haben wolle, müsse sie selbst Vorschläge zur Gegenfinanzierung machen, hieß es in Lindners Ministerium. Dabei sei ihr geraten, zu berücksichtigen, "dass alle sozialen Ausgaben ein starkes wirtschaftliches Fundament benötigen".

Verena Hubertz (SPD): "Wirtschaft braucht jetzt Maßnahmen"

Rückendeckung bekommt Paus aus der grünen Bundestagsfraktion: Deren Parlamentarische Geschäftsführerin Irene Mihalic erklärte, die wirtschaftlichen Impulse von Lindners Gesetz seien gemessen an den Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu gering. "Doch wenn schon Geld dafür da ist, dann muss auch Geld für diejenigen da sein, die es am dringendsten benötigen. Da hat Lisa Paus ganz recht", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Der stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Andreas Audretsch betonte, es brauche beides: "Starke Investitions-Impulse, um unserer Wirtschaft eine gute Zukunft zu geben und eine Kindergrundsicherung, um Ernst zu machen im Kampf gegen Kinderarmut."

Unterstützung für Lindner kam aus der SPD-Fraktion. "Das Verschieben des Gesetzes ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Wirtschaft braucht jetzt Maßnahmen", sagte Fraktionsvize Verena Hubertz dem RND.

Auch Vertreter der Wirtschaft äußerten sich entsetzt. "Damit hat Familienministerin Lisa Paus der grünen Regierungsbeteiligung ein unglaubliches Eigentor geschossen", erklärte der Verband der Familienunternehmer. "Und das auch noch als Blutgrätsche gegenüber dem Finanzminister – vor allem aber gegenüber dem eigenen Vizekanzler Habeck. Vor den Bürgern stehen die Grünen jetzt als Chaostruppe da." (Von Theresa Münch und Stella Venohr, dpa/fab)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.