In der Ampel-Regierung herrscht mal wieder Ehekrieg. Das Ausscheren von FDP-Chef Lindner belastet nicht nur die Bundesregierung, sondern könnte auch zu Verzögerungen bei wichtigen Entscheidungen für die Wirtschaft führen.

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Die Stimmung in der Wirtschaft ist im Keller, die Konjunktur in Deutschland kommt nicht in Schwung – und die zerstrittene Ampel-Koalition sucht nach Lösungen. Die FDP läutet am Montag die nächste Runde der separaten Gipfel ein. Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner sowie Fraktionschef Christian Dürr haben Verbände zu einem "wirtschaftspolitischen Spitzengespräch" eingeladen.

Dreierrunde angekündigt

Am Montag und Dienstag sind nach Angaben aus Regierungskreisen auch Dreierrunden von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) angesetzt. Am Mittwoch ist zudem ein Koalitionsausschuss geplant.

"Deutschland steht in diesem Herbst vor einer Richtungsentscheidung", sagte Dürr der Deutschen Presse-Agentur. "Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt muss jetzt den Turnaround schaffen." Deutschland haben jedes Potenzial, wieder zu Wachstumsstärke zurückzukommen. "Die Frage, die sich jetzt noch stellt, ist: Haben wir den Mut zu großen Reformen? Wir brauchen Ergebnisse, die effektiv in den Betrieben ankommen, damit wieder investiert wird."

Lindner fordert in einem Grundsatzpapier eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das heizt den Richtungsstreit in der Koalition mit SPD und Grünen weiter an. Die Wirtschaft hat hohe Erwartungen an die Bundesregierung.

Wirtschaftliche Lage besonders in der Industrie angespannt

Für 2024 wird das zweite Rezessionsjahr in Folge erwartet. Deutschland hinkt anderen großen Wirtschaftsnationen hinterher. Am schlechtesten von allen Wirtschaftszweigen sei die Lage in der Industrie, ergab eine Konjunkturumfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Sinnbildlich steht die Krise bei VW, wo es um Werksschließungen und Job-Abbau geht.

Kanzler Scholz kündigte nach einem Industriegipfel an, mit einem "Pakt für die Industrie", der sehr konkrete Maßnahmen umfasse, solle der Standort gestärkt werden. Welche Maßnahmen das sein sollen, sagte Scholz aber nicht. Am 15. November soll es weitergehen. Die FDP veranstaltete am Tag des ersten Industriegipfels eine Art Gegengipfel mit Wirtschaftsverbänden, die nicht bei Scholz eingeladen waren. Die separaten Gipfel sorgten für Kritik und Kopfschütteln.

Die Erwartungen der Wirtschaft sind klar: Es muss sich etwas tun – und zwar schnell. "Die Wirtschaft braucht jetzt beides, rasche Entscheidungen für schnell wirksame Maßnahmen und zugleich tiefgreifende Strukturreformen, die jetzt eingeleitet werden müssen", sagte Tanja Gönner, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Deutschen Industrie. "Es ist allerhöchste Zeit, das Ruder für die Industrie am Standort Deutschland herumzureißen." Scholz sei verantwortlich, eine gemeinsame Linie der Bundesregierung für mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln.

Die Forderungen der Wirtschaft

Zuallererst müsse die Regierung ihre Wachstumsinitiative zügig und ohne Abstriche umsetzen. Das reiche aber nicht aus, so Gönner. Noch in dieser Legislatur müssten drei weitere Sofortmaßnahmen kommen, um die Unternehmen bei den Energiekosten zu entlasten und ihre Wettbewerbsfähigkeit insgesamt zu steigern.

Gönner nennt eine Kofinanzierung der Netzentgelte aus dem Bundeshaushalt, ein neues "Strommarktdesign", um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und Impulse für Investitionen zu setzen, sowie eine weitere deutliche Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren für Industrieanlagen. 

Auch andere Verbände fordern seit langem vor allem niedrigere Energiepreise, mehr Investitionen in die Infrastruktur und weniger Bürokratie und Regulierungen. "Immer neue Berichtspflichten haben die Verwaltungskosten der Unternehmen in unverantwortliche Höhen getrieben", sagte Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands "Die Familienunternehmer".

Forderung nach Klarheit

Die Krise sei nicht nur konjunkturell, sondern habe handfeste strukturelle Ursachen, sagte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Martin Wansleben. "Die Unternehmen brauchen dringend mehr Klarheit in Bezug auf die Verbesserungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hierzulande. Die Bundesregierung muss endlich liefern." Es werde Zeit, dass der Beschleunigungspakt mit den Ländern endlich richtig umgesetzt werde. Gleiches gelte für die Wachstumsinitiative mit ihren 49 Einzelmaßnahmen.

Im Juli hatte die Bundesregierung die Wachstumsinitiative angekündigt. Geplant sind zum Beispiel Verbesserungen bei Abschreibungen von Investitionen, der Abbau von Bürokratie und mehr Anreize für Arbeit. Beim umstrittenen Lieferkettengesetz soll es Entlastungen für Firmen geben.

Nach Einschätzung der Regierung könnte das Paket im nächsten Jahr zu einem zusätzlichen Wachstum von mehr als einem halben Prozent führen. Aber von der Wachstumsinitiative ist noch nichts umgesetzt, viele Maßnahmen sind bisher nicht einmal vom Kabinett auf den Weg gebracht worden. Bei zentralen Punkten wie steuerlichen Verbesserungen muss der Bundesrat zustimmen. Weil es Steuermindereinnahmen auch für die Länder geben soll, werden harte Verhandlungen erwartet.

Offen ist auch, wie Maßnahmen etwa zur Senkung der Stromkosten finanziert werden sollen. Scholz sprach sich für einen milliardenschweren Bundeszuschuss zu den Netzentgelten aus. Das Geld könnte aus eigentlich vorgesehen Fördermitteln für Intel kommen. Der kriselnde Chipkonzern hatte den Bau eines Werks in Magdeburg verschoben. Lindner könnte die Intel-Milliarden aber gut gebrauchen, um Lücken im Haushalt 2025 zu schließen. Bald dürfte es Entscheidungen geben: Mitte November sind die entscheidenden Beratungen zum Haushalt.

Hält die Ampel durch?

Die Lage in der Wirtschaft belastet auch die Bundesregierung in ihren Grundfesten. Droht jetzt der Bruch der Ampel-Koalition? Der Bewerber für den Grünen-Vorsitz, Felix Banaszak, sagte in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin", er könne niemandem raten, "gerade öffentlich die ganze Zeit mit einem Koalitionsende zu spielen. Wie gesagt, in zwei Tagen wählen die USA und die Frage ist: Kommen wir da noch mal einigermaßen gut durch oder haben wir wieder Donald Trump?"

SPD-Chef Lars Klingbeil sagte in der Sendung: "Wir haben eine internationale Situation, die an vielen Stellen wirklich herausfordernd ist. Wir wissen nicht, was am Dienstag bei den Wahlen in den USA passiert." Deswegen mache der Hickhack an der Spitze der Bundesregierung und die Provokation durch den Koalitionspartner keinen Sinn und keinen Spaß.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken ließ gleichwohl Zweifel erkennen, ob die Koalition bis zum regulären Wahltermin am 28. September 2025 halten wird. "Niemand will im Augenblick eine Prognose wagen, wann genau die nächste Bundestagswahl stattfindet. In der Koalition, das ist nicht von der Hand zu weisen, brennt gerade die Hütte", sagte sie bei einer SPD-Veranstaltung in Hamburg. Lindners Forderungen lehnte sie klar ab: "Durch die Bank sind diese Punkte, die er dort aufgezählt hat, in der Koalition nicht zu verwirklichen."

Stimmung in der Regierung ist angespannt

Banaszak verglich die Ampel-Koalition mit einer Ehe im Trennungsjahr. Im ZDF sagte er: "Die Liebe kommt nicht wieder, aber man hat noch Verantwortung für die Kinder. Und ich finde, dieser Verantwortung sollte man erst mal gerecht werden."

Klingbeil erinnerte die Koalition an ihre Verantwortung. "Ich merke, dass gerade in diesen Tagen das politische Berlin supernervös ist und viel spekuliert wird, wie es weitergeht", sagte er der «"Augsburger Allgemeinen". "Aber genau das ist es, was die Menschen in diesem Land nervt. Mich übrigens auch", fügte er hinzu. Viele Menschen hätten angesichts der Wirtschaftslage Sorgen oder sähen sogar ihren Arbeitsplatz gefährdet.

"Und da wollen sie eine Regierung sehen, die sich nicht jeden Tag um sich selbst dreht, sondern die alles dafür tut, um diese Arbeitsplätze zu retten", sagte Klingbeil. "Ich bin da mehr bei meinem FDP-Kollegen Volker Wissing: Regieren ist nicht einfach, aber wir tragen eine Verantwortung, dass es gelingt." Bundesverkehrsminister Wissing hatte sich am Freitag in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für den Verbleib seiner Partei in der Koalition ausgesprochen. Kurz darauf wurde Lindners Wirtschaftspapier bekannt.

Union heißt Lindners Vorstoß gut

Darin fordert der FDP-Chef eine "Wirtschaftswende" mit einer "teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen". Konkret ist von einem sofortigen Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen die Rede. Weiter heißt es, als Sofortmaßnahme sollte der Solidaritätszuschlag für alle entfallen, und nationale Klimaziele müssten durch europäische ersetzt werden.

Das Papier enthalte Vorschläge, die zum Teil wörtlich aus Anträgen übernommen seien, die die Unionsfraktion in den vergangenen zwei Jahren in den Bundestag eingebracht hätte, schreibt CDU-Chef und Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz in seinem E-Mail-Newsletter "MerzMail". "Über Einzelheiten mag man diskutieren, aber die Vorschläge gehen in die richtige Richtung. Sie sind insgesamt auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ausgerichtet und damit im Kern und zutreffend angebotsorientierte Wirtschaftspolitik."

"Der Finanzminister hat ein mutiges Papier vorgelegt, das die desaströse Lage unserer Wirtschaft schonungslos analysiert und grundsätzlich die richtigen angebotspolitischen Antworten gibt", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU), der Deutschen Presse-Agentur.

Allerdings seien Lindners Vorschläge "das glatte Gegenteil von dem, was die Ampel seit drei Jahren macht" und nicht in Einklang zu bringen mit den "schuldenfinanzierten Staatsfonds-Ideen" von Wirtschaftsminister Habeck, so Frei. Vielmehr sei Lindners nun bekanntgewordenes Papier eine "Kampfansage an die Grünen". (dpa/bearbeitet von the)

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