Die Sondierungsgespräche gehen weiter - zuletzt wurde vor allem um die künftige Flüchtlings- und Klimapolitik gestritten. Obwohl Union, FDP und Grüne angestrengt verhandeln, ist eine Einigung noch längst nicht ausgemacht. Sollten die Gespräche platzen, dürfte es Neuwahlen geben. Damit kokettieren auch die Unterhändler immer wieder. Dabei ist der Weg dorthin keineswegs einfach.
Wenn sich Union, FDP und Grünen nicht einig werden, wählt Deutschland einfach neu? Nicht unbedingt!
Einfach Neuwahlen? Bestimmt nicht
Es längst nicht ausgemacht, dass es bei einem Scheitern der Sondierungsgespräche zu einem erneuten Gang zur Wahlurne kommt. Denn das deutsche Grundgesetz erschwert den Weg zu Neuwahlen bewusst.
Was ist das Ziel der Sondierungsgespräche?
Momentan wollen die Vertreter von CDU/CSU, der FDP und den Grünen ausloten, ob sie überhaupt Koalitionsverhandlungen aufnehmen wollen.
Das ist bei vier Parteien mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen nicht einfach.
Die aktuellen Gespräche sind allerdings nur die Vorarbeit zu der eigentlichen Aufgabe, in Koalitionsgesprächen ein gemeinsames Regierungsprogramm zu erarbeiten.
Anschließend muss eine Mehrheit im Bundestag den Bundeskanzler wählen, der die Regierungsgeschäfte leitet.
Was passiert, wenn die Sondierungegspräche scheitern?
Auch wenn sich die Parteien nicht einigen, bleibt der Auftrag an den Bundestag bestehen, einen Kanzler zu wählen.
Der Bundestag hat keine Möglichkeit, sich selbst aufzulösen und so Neuwahlen in die Wege zu leiten.
Das kann nur der Bundespräsident - und auch nur dann, wenn ein Kanzlerkandidat im Bundestag zweimal keine absolute Mehrheit erhalten hat.
Was ist mit den Möglichkeiten von Vertrauensfrage und Misstrauensvotum?
Es gibt noch eine Möglichkeit, Neuwahlen zu erzwingen - für den Bundeskanzler. Er kann dem Parlament die Vertrauensfrage stellen.
Findet er keine Mehrheit, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen einleiten.
Das Problem: Deutschland hat im Moment keinen Bundeskanzler.
Denn Artikel 69 des Grundgesetztes legt fest, dass mit dem Zusammentritt eines neu gewählten Bundestages die Amtszeit des Bundeskanzlers "in jedem Fall" endet.
Merkel ist somit nur Geschäftsführende Bundeskanzlerin und kann die Vertrauensfrage nicht stellen.
Aus demselben Grund ist auch kein konstruktives Misstrauensvotum durch den Bundestag möglich - weil es nach den Buchstaben des Grundgesetzes derzeit gar keinen Bundeskanzler gibt, der durch einen anderen Kandidaten abgelöst werden könnte.
Was könnte dann passieren?
Nach den Bestimmungen des Grundgesetzes wären drei Schritte notwendig:
1. Angela Merkel würde sich wohl ohne erfolgreiche Koalitionsverhandlungen nicht zur Wahl stellen, weil sie dann keine Mehrheit bekommen würde. "Frau Merkel müsste dann zur SPD gehen", meint Diederich, "und die SPD würde wohl sagen: Nicht mit Merkel, wir wollen einen Alternativkandidaten."
Es könnte sich beispielsweise Merkels Vertrauter Peter Altmaier zur Wahl stellen. Der Bundespräsident würde dann diesen Kandidaten zur Wahl vorschlagen.
2. Was geschehen würde, bekäme auch er nicht die absolute Mehrheit im Bundestag, regelt Absatz 3 des Grundgesetzartikels 63: "Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen."
Anders gesagt: Das Parlament kann nun "aus seiner Mitte", wie es der Politologe Diederich formuliert, und ohne Vermittlung des Bundespräsidenten einen Kandidaten aufstellen und wählen.
3. Bekommt auch der neue Kandidat nicht die absolute Mehrheit der Volksvertreter, gibt es "unverzüglich" (Artikel 63, 4) einen weiteren, dritten Wahlgang, in dem dann eine einfache Mehrheit ausreicht
Kurz gesagt: Diese Wahl kann auch ein Kandidat gewinnen, der mehr Gegenstimmen als Ja-Stimmen erhält. Entscheidend ist nur, dass kein anderer mehr Stimmen bekommt.
Den Kandidaten mit dieser einfachen Mehrheit kann der Bundespräsident anschließend zum Bundeskanzler ernennen.
Eine einfache Mehrheit genügt aber nicht zum Regieren …
Das Ergebnis wäre eine Minderheitsregierung - ein Bundeskanzler, der sich im Parlament für jedes Gesetz und jede Abstimmung wechselnde Mehrheiten suchen müsste.
Solch einen Fall hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nicht gegeben.
"In den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, in Belgien und Italien fallen häufiger Regierungen auseinander und es gibt dann Minderheitskabinette", so Diederich.
Solche Regierungen seien aber "instabil und bei uns nicht beliebt."
Möglich und wohl auch wahrscheinlich ist es laut Diederich, dass der Bundespräsident dann von seinem Recht Gebrauch machen wird, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.
Gibt es Abkürzungen für diesen langen Weg zu Neuwahlen?
Nein - wegen der negativen Erfahrungen mit instabilen Regierungen in der Weimarer Republik. Die Väter des Grundgesetzes haben es deswegen dem Bundestag unmöglich gemacht, sich selbst aufzulösen.
"Dass das bei uns nicht so leicht geht mit der Auflösung des Bundestages und Neuwahlen, hat seine guten Gründe", sagt Politologe Diederich. "Und vor allem war es bisher kein Schaden."
Entscheidend ist hier Artikel 20 des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."
Die Volksvertreter sollen durch den genau festgelegte Weg zur Wahl des Bundeskanzlers (und möglichen Neuwahlen) dazu gezwungen werden, intensiv und im Zweifel über einen längeren Zeitraum nach Kompromissen zu suchen.
Die aktuell laufenden Sondierungsgespräche sind auf diesem Weg nur der erste Schritt.
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