Wie gerecht ist Deutschland? Das ist eine der wichtigsten Fragen im Bundestagswahlkampf – und eine der umstrittensten. Alle Parteien verstehen etwas anderes darunter, die Analysen unterscheiden sich wesentlich, die Lösungsansätze auch. Wir machen den Check.
Kinder und Tiere gehen immer, so lautet eine alte Regel in der Medienbranche. Die Macher des CDU-Wahlwerbespots haben sich gleich für ein ungeborenes Kind entschieden, ein Embryo ist zu sehen, ein Klavier spielt, und
Wie gerecht Deutschland ist und was die Parteien fordern
Ein bemerkenswerter Einstieg, denn die Antwort fällt wenig schmeichelhaft aus für die Kanzlerin und die Union: Geboren wird dieses Kind in ein Deutschland, in dem das Armutsrisiko für unter Zehnjährige seit Merkels Amtsantritt um vier Prozentpunkte auf rund 20 Prozent gestiegen ist - und in dem die Zukunftschancen immer noch vor allem von den Eltern abhängen.
Drei von vier Akademikerkindern studieren, drei von vier Arbeiterkindern studieren nicht. Das spart die Union im Spot aus.
In ihrem Wahlprogramm bekennt sich die Partei zur sozialen Gerechtigkeit, jede Partei tut das, alles andere wäre politischer Selbstmord – 75 Prozent der Deutschen finden die Zustände im Land ungerecht.
Die Gründe für dieses Gefühl sind genauso unterschiedlich wie die Antworten und Lösungsangebote der Parteien.
Wir haben uns zusammen mit Dr. Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die wichtigsten Analysen und Positionen einmal genauer angeschaut.
CDU/CSU und das Thema soziale Gerechtigkeit
Die Kassen sind voll, die Wirtschaft brummt, alle profitieren, gerade untere und mittlere Einkommen – wer das Wahlprogramm der Union liest, blickt auf nichts als blühende Landschaften.
Dr. Markus Grabka kommt zu einem anderen Schluss, vor allem was die unteren Schichten anbelangt: "Nur weil es der Wirtschaft gut geht, heißt das nicht, dass die gesamte Bevölkerung davon gleichermaßen profitiert. Das real verfügbare Nettohaushaltseinkommen der unteren 40 Prozent stagniert, und das Armutsrisiko ist leicht angestiegen."
Zwar sei die Zahl der Menschen in Grundsicherung von 2005 bis 2015 leicht gesunken. "Aber das ist die offiziell bekämpfte Armut – die Armutsrisikoquote bietet ein Bild derjenigen, die knapp oberhalb der Grundsicherung liegen, und hier ist ein leichter Anstieg zu beobachten."
Ungerecht findet die Union den Einkommenssteuertarif, vor allem für die Mittelschicht, die sie entlasten will.
Die Mitte, die der Union so am Herzen liegt, sie ist in Angela Merkels Kanzlerschaft geschrumpft, wie Wirtschaftsforscher Grabka in einer Studie festgestellt hat.
Demnach besteht die Mittelschicht aus denjenigen, die zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren verfügbaren Nettoeinkommens von rund 1.800 Euro verdienen. "Und selbst bei einer breiteren Definition sehen wir ein leichtes Schrumpfen der Einkommens-Mittelschicht." Rund 40 Prozent steigen auf, die restlichen 60 Prozent steigen ab, erklärt Grabka.
"Ich spreche von einer Polarisierung der Gesellschaft. Die Schere zwischen den Anteilen am oberen und unteren Rand der Einkommensverteilung geht weiter auf."
SPD und das Thema soziale Gerechtigkeit
Die Grundlage für die guten Arbeitsmarktzahlen, mit denen die Union ihre optimistische Sicht auf Deutschland begründet, hat die SPD mit der "Agenda 2010" gelegt – sagte zumindest die Kanzlerin, die damit Martin Schulz öffentlich vor einer Reform der Reform warnte.
Aber die sinkende Arbeitslosigkeit hat nicht alle Probleme gelöst. Der Anteil der Menschen, die trotz Arbeit an der Grenze zur Armut leben, hat leicht zugenommen. "Eigentlich hätte man natürlich bei der steigenden Nachfrage nach Beschäftigten einen Rückgang erwartet", sagt Markus Grabka.
Die SPD will da ansetzen und verspricht in Ihrem Programm einen "Pakt für anständige Löhne und mehr Tarifbindung". Gerade die kleinen und mittleren Einkommen sollen entlastet werden, und per Reichensteuer Menschen mit einem Einkommen ab 250.000 höher belastet werden. Besonders die Großverdiener haben sich in den letzten Jahren zunehmend aus der Finanzierung des Staates zurückgezogen. Der "Stern" berichtete, 1970 hätten die Reichen noch zu 20 Prozent zu dein Einnahmen beigetragen, nun nur noch zu 12 Prozent – weil Steuern, die Reiche betreffen, abgeschafft oder gesenkt wurden: Vermögenssteuer, Börsenumsatzsteuer, Erbschaftssteuer, Kapitalertragssteuer, Körperschaftssteuer.
Das führt dazu, dass die Unterschiede bei den Vermögen noch größer sind als bei den Einkommen. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es, dass die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens besitzen – die untere Hälfte besitzt nur ein Prozent, die untersten zehn Prozent haben nichts außer Schulden.
Ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen gefährde letztlich auch den wirtschaftlichen Erfolg, schreiben die Genossen. Eine These, die unter Wirtschaftswissenschaftlern stark umstritten ist, erklärt Markus Grabka vom DIW. "Die vielen empirischen Befunde lassen keinen eindeutigen Schluss zu."
Die Linke und das Thema soziale Gerechtigkeit
Bei "Spiegel Online" gab die Linken-Vorsitzende Katja Kipping eine eingängige Antwort auf die Frage, was soziale Gerechtigkeit bedeutet: "Dass niemand in Armut leben muss."
Tatsächlich steigt das Risiko dafür an, auch im Alter. Wirtschaftsforscher Markus Grabka führt das Beispiel von ostdeutschen Rentnern an, die in der Wendezeit ihre Jobs verloren haben und weder auf eine Betriebsrente noch auf privates Vermögen zurückgreifen können. Da hilft auch der Boom am Arbeitsmarkt nicht – so wie er auch keine Garantie für die Zukunft ist.
"Die gute Arbeitsmarktentwicklung ist schön – aber sind die Jobs auch gut und ordentlich bezahlt? Es gibt aktuell Rechnungen, nach denen man 45 Jahre lang brutto 10 Euro Stundenlohn verdienen muss, um eine gesetzliche Rente auf Sozialhilfeniveau zu bekommen", sagt Grabka. "Das Phänomen Altersarmut wird zunehmen, da besteht Handlungsbedarf."
Die Linkspartei will einerseits mit einem Mindestlohn in Höhe von 12 Euro und mit einer Mindestrente von 1050 Euro im Monat gegensteuern – bezahlen sollen das unter anderem Besserverdienende (mit einer Steuer von 60 Prozent auf das zu versteuernde Einkommen ab 260.000 Euro) und Reiche (mit einer Steuer von 75 Prozent auf das zu versteuernde Einkommen oberhalb von einer Million Euro).
Die Grünen und das Thema soziale Gerechtigkeit
Die Grünen bemängeln in ihrem Programm besonders, dass Teilhabe und Aufstiegschancen in Deutschland an Herkunft und Erbe geknüpft sind. Tatsächlich erklären sich 40 Prozent der Ungleichheit im individuellen Einkommen durch den Familienhintergrund.
Vor allem Alleinerziehende gehören zu den Problemgruppen – und damit auch ihre Kinder. "Gerade im Bereich der frühkindlichen Bildung hat Deutschland investiert", sagt Markus Grabka vom DIW, "aber es hapert zum Beispiel an einer ausreichenden Zahl von Ganztagsbetreuungsplätzen, damit auch Eltern in Schichtarbeit Beruf und Familie vereinbaren können. Damit könnte man auch eine der wichtigsten Ursachen für Ungleichheit und insbesondere Kinderarmut bekämpfen."
Die Grünen fordern – wie auch die Union – einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung von der Kita bis zur vierten Klasse. SPD und Linke fordern sogar, dass von der Kita bis zur Hochschule Betreuung und Bildung kostenlos sein soll.
FDP und das Thema soziale Gerechtigkeit
Die Liberalen wollen die Steuersätze deutlich verschieben, um alle Einkommensschichten um insgesamt 30 Milliarden Euro zu entlasten. Alles andere sei "leistungsfeindlich und ungerecht".
Sozial gerecht ist, so formulierte es Parteichef Christian Lindner, wenn alle Menschen einen fairen Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit haben.
In ihrem Programm verspricht die FDP Investitionen für die "weltbeste Bildung", was Sinn ergibt: Je besser die Menschen ausgebildet sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie später ein hohes Einkommen erzielen.
Dass jeder unabhängig vom Geldbeutel Zugang zur "weltbesten Bildung" haben kann, soll durch Bildungsgutscheine sichergestellt werden, die bei staatlichen, kommunalen und freien Bildungseinrichtungen eingelöst werden können, heißt es im FDP-Programm.
Wer die massiven Investitionen bezahlen soll, lassen die Liberalen offen – Steuererhöhungen lehnt die FDP ab.
AfD und das Thema soziale Gerechtigkeit
Keine Gruppe in der Gesellschaft empfindet die Defizite bei der Gerechtigkeit größer als Anhänger der AfD, ergab eine Forsa-Umfrage.
Worin genau die Ungerechtigkeit besteht, erklärt ein Blick ins Programm: Altersarmut und Kinderarmut werden thematisiert – und mit Ausgaben für Flüchtlinge und die Bankenrettung kontrastiert.
Ansonsten vertritt die die AfD die Positionen einer klassischen Steuersenkungspartei: Hauptsache, der Staat lässt genug Netto vom Brutto übrig. Die Erbschaftssteuer will die AfD gleich komplett abschaffen, die Übergabe von Vermögen sei "Privatangelegenheit".
Das dürfte eher zu einer weiteren Konzentration des Vermögens führen, vermutet Wirtschaftsforscher Markus Grabka. Er hat in einer nicht repräsentativen Stichprobe Reiche nach dem Ursprung ihres Geldes gefragt. "Zwei Drittel haben angegeben, dass Erbschaften oder Schenkungen einer der Faktoren waren, die sie in ihre Position gebracht haben."
Dabei gilt in Deutschland das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. "Je höher das eigene Nettoeinkommen, desto höher sind die bezogenen Erbschaften und Schenkungen." Allerdings, schränkt Grabka ein, sei die Datenlage zu Vermögen schlecht – und zu Erbschaften und Schenkungen noch schlechter.
So lässt sich gar nicht genau beziffern, wie ungerecht es genau zugeht in Deutschland. "In unserer Leistungsgesellschaft wissen wir ausgesprochen wenig über leistungslos bezogenes Vermögen. Schätzungen zu Erbschaften und Schenkungen belaufen sich auf ein Volumen von 80 bis zu 400 Milliarden Euro jährlich."
"Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?"
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