Eine große Koalition gilt nach den ersten Sondierungsgesprächen als wahrscheinlich - und würde wohl auch den Willen einer Mehrheit der Deutschen entsprechen. Prof. Dr. Christian Martin ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Kiel. Im Interview erklärt er, warum eine große Koalition eine schlechte Option für Deutschland ist und eine geschwächte Opposition im Bundestag ihre Kontrollfunktion nur noch sehr eingeschränkt wahrnehmen könnte.
Herr Martin, die große Koalition steht in Deutschland offenbar kurz vor einer Neuauflage. Aus Ihrer Perspektive: Wie wird sich die Politik einer
Christian Martin: Die Regierung wird mehr tun können, weil sie im Bundesrat auf die Unterstützung der SPD-geführten Länder setzen kann. Es wird außerdem mehr Umverteilung geben – die FDP war da immer eine Bremse. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat ja schon kurz nach der Wahl signalisiert, dass sich die Union Forderungen nach höheren Steuern aus der SPD nicht verschließen wird.
Sind SPD und CDU in wichtigen innenpolitischen Politikfeldern überhaupt kompatibel, z.B. beim Thema Mindestlohn oder bei einer möglichen Mietpreis-Bremse? Wo liegen die Unterschiede?
Martin: Es gibt große Bereiche, in denen die Positionen von SPD und Union überlappen. Das gilt insbesondere, seit die CDU unter Merkel nach links gerückt ist. Starke Kräfte in der Union hätten überhaupt kein Problem mit einem gesetzlichen Mindestlohn oder auch einer gesetzlichen Regulierung der Mietpreise. Unterschiede gibt es teilweise noch im gesellschaftspolitischen Bereich, hier vor allem zwischen konservativem Unionslager und linker SPD.
Und in der Außenpolitik? Wie könnte sich die Europa-Politik in einer Regierung Merkel mit SPD-Beteiligung ändern?
Martin: Ich erwarte keine großen Veränderungen in der Europapolitik. So oder so wird Deutschland in Europa mehr Umverteilung zwischen unterschiedlich produktiven Volkswirtschaften zulassen müssen. Die SPD hat außerdem die Europapolitik der Kanzlerin immer mitgetragen. Wir werden in der kommenden Legislaturperiode Bemühungen sehen, die Wirtschafts- und Finanzpolitik über eine Änderung der Verträge stärker auf die europäische Ebene zu verlagern. Das wollen sowohl CDU/CSU als auch die SPD.
Mit einer großen Koalition gäbe es nur eine sehr kleine Opposition aus Linkspartei und Grünen im Bundestag. Ist mit einer sehr kleinen Opposition überhaupt eine sinnvolle Kontrolle der Regierungsarbeit gewährleistet?
Martin: Nein. Nach den derzeitigen Regeln könnte die Opposition noch nicht einmal einen Untersuchungsausschuss einrichten. Diese Regeln kann man ändern, das wurde schon bei der bislang letzten großen Koalition gemacht. Aber man braucht ja auch die Parlamentarier, um solche Aufgaben zu übernehmen. Regierung braucht Kontrolle und mit dieser sehr kleinen Opposition wäre eine echte Kontrolle nur sehr schwer möglich. Dazu kommt die Situation im Bundesrat: Hier haben die großen Parteien ohnedies das Heft in der Hand.
Es gibt Experten, die im Falle einer großen Koalition vor allem eine Zeit des politischen Stillstands in Deutschland erwarten. Ist eine große Koalition nach Ihrer Einschätzung derzeit eine gute Option für Deutschland?
Martin: Ich halte überhaupt nichts von einer derart übergroßen Koalition. Das mag kurzfristig attraktiv sein, und nach den Umfragen ist ja auch eine Mehrheit der Bevölkerung dafür. Langfristig aber lebt die Demokratie von der Auseinandersetzung um Gegensätze. Diesen produktiven Streit schon im Vorfeld der Regierungsarbeit durch eine Koalition zu verkleistern, ohne dass es zu einer Auseinandersetzung und zu einer anschließenden Kompromissbildung im Parlament kommt, halte ich für schädlich. Es gibt bislang in Deutschland keine rechtspopulistische Partei im Bundestag. Nach einer Zeit der Superkoalition könnte das sehr wohl anders aussehen. Der alte Lehrsatz behält seine Gültigkeit: Große Koalitionen sind schlecht für die Demokratie.
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