Viele Bauern in der EU fühlen sich von Brüssel nicht ausreichend unterstützt. Mit teils heftigen Protesten machten sie sich in den vergangenen Monaten Luft. SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley sieht die Proteste kritisch – ebenso wie die Reaktion der EU. Und sie warnt vor einem "Europa der Egoisten", das sich Rechtspopulisten wünschen.

Ein Interview

Stacheldraht und Brände, Polizisten in Schutzmontur: Die Szenen der Bauernproteste vor dem Europaparlament gingen Anfang Februar um die Welt. Zeitweise musste das Parlament sogar abgeriegelt werden. Mit rund 1.300 Traktoren waren Landwirte nach Brüssel gekommen, um gegen die Agrarpolitik der EU zu protestieren.

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Die aufgeheizte Stimmung ist inzwischen verpufft, Brüssel hat auf die Kritik reagiert. Doch es muss sich etwas grundsätzlich ändern, sagt Katarina Barley. Die Vizepräsidentin des Europaparlaments tritt als Spitzenkandidatin der SPD zur Europawahl an. Sie findet: Die EU muss neue Kriterien für die Unterstützung der Landwirtschaft ansetzen – und ganz Europa sich gegen einen Rechtsruck in Brüssel stemmen.

Frau Barley, vielerorts in Europa sind in den vergangenen Monaten Landwirte auf die Straße gegangen. Das EU-Parlament hat vor wenigen Tagen auf die Proteste reagiert – und Umweltauflagen für Landwirte gelockert. Ein richtiger Schritt?

Katarina Barley: Über die gemeinsame Agrarpolitik ist in der EU fast drei Jahre ausgewogen verhandelt worden. Herausgekommen ist ein Förderpaket für die Landwirtschaft, mit dem etwa ein Drittel des Gelds der Europäischen Union in die Landwirtschaft fließt. Wenn man das innerhalb von zwei Wochen im Schnellverfahren über den Haufen wirft, finde ich das schwierig. Ich halte auch einige der neuen Regelungen für fragwürdig und höre Ähnliches aus der Landwirtschaft selbst.

Haben Sie ein Beispiel?

Dass Betriebe, die weniger als zehn Hektar Land haben, von EU-Kontrollen komplett ausgenommen werden sollen. In Anbetracht der Summen, die für die Förderungen der Landwirte ausgegeben werden, finde ich das bedenklich. Wir haben schließlich auch eine Verantwortung gegenüber den Steuerzahlern und etwas Vergleichbares gibt es in keiner anderen Branche.

Ist Brüssel zu schnell vor der Bauernlobby eingeknickt?

Es ist Wahlkampfzeit und die Bauern haben sehr lautstark protestiert. Den Ansatz "Wer am lautesten protestiert, bekommt am meisten Zugeständnisse" halte ich für falsch. Ich wünsche mir, dass zum Beispiel Pflegekräfte oder Erzieherinnen und Erzieher mehr gehört würden. Auch wenn die keine Traktoren haben, mit denen sie Straßen blockieren können.

Die SPD will bessere Bedingungen für Bäuerinnen und Bauern schaffen. Bisher bekommen Bauern mit den größten Flächen auch die meisten Subventionen. Das wird scharf kritisiert, in Ihrem Wahlprogramm findet sich aber kein Wort dazu. Warum?

Wir haben versucht, unser Wahlprogramm kurz und knackig zu halten. Wir haben aber für die Abschaffung der Flächensubventionen gestimmt. Es ergibt schon betriebswirtschaftlich keinen Sinn, dass es bei der Förderung pro Hektar nach oben gar keine Begrenzung gibt. Die kleinen und mittleren Betriebe kommen dabei unter die Räder.

Heißt, die SPD will sich in Zukunft weiter für die Abschaffung der Flächensubventionen einsetzen?

Die gemeinsame Agrarpolitik der EU ist bis 2027 beschlossen. Aber grundsätzlich sind wir dafür, dass viel stärker berücksichtigt werden muss, was auf den Höfen geleistet wird, anstatt nur stur nach der Hektarzahl zu subventionieren. Wer innovativ ist und etwa Klimaschutz und Tierschutz mitdenkt, der leistet einen Beitrag für die Gesellschaft. Und dem sollte man auch mehr öffentliches Geld zugestehen.

Lösungen in Handelsverträgen finden

Ein anderes großes Problem für die Landwirte ist, dass sie mit Produzenten konkurrieren, die weniger Umweltstandards einhalten müssen und deswegen viel günstiger herstellen. Braucht es einen europäischen Agrar-Protektionismus?

Die EU will grundsätzlich weg vom Protektionismus, also Abschottung. Wenn wir den Handel von Agrargütern aus dem EU-Ausland bei uns hemmen, reagieren die Länder mit ähnlichen Maßnahmen in Bezug auf unsere Waren. Das bringt uns im Welthandel nicht weiter. Wichtiger ist, dass wir in Handelsverträgen Lösungen finden, mit denen am Ende beide Seiten leben können. Also in diesen Verträgen auch festzuhalten, dass nur Lebensmittel eingeführt werden können, die auch unseren Umwelt- und Gesundheitsstandards entsprechen.

Wer als Bauer ökologisch arbeitet, hat höhere Kosten. Doch Kunden greifen im Supermarkt meist trotzdem zum billigsten Produkt. Muss die EU Verbraucher stärker in die Verantwortung nehmen?

Ich bin Sozialdemokratin und denke vor allem auch an diejenigen, bei denen das Geld zum Ende des Monats knapp wird. Wir können die Menschen nicht verpflichten, Produkte zu kaufen, die teurer sind, weil sie oberhalb der Mindeststandards produziert werden. Aber die EU könnte zum Beispiel die Förderung von regionaler Landwirtschaft stärken. Aus meiner Erfahrung heraus sind die meisten Menschen durchaus bereit, für solche Produkte mehr Geld auf den Tisch zu legen.

Es gibt Befürchtungen, dass sich vor allem rechte Kräfte den Unmut der Landwirte bei der EU-Wahl zu Nutze machen. Wie viel Angst haben Sie vor einem Rechtsruck?

Ich finde, wir müssen vorsichtig sein, wie wir diese Diskussion führen. Oft wird so getan, als wäre ein Rechtsruck im Europäischen Parlament schon in Stein gemeißelt. Aber das ist er nicht. Wir haben in Deutschland jüngst gesehen, dass überall Hunderttausende für Demokratie, Vielfalt und Menschlichkeit auf die Straße gegangen sind. Es gibt also ein großes Potenzial von Menschen, die die Gefahr von rechts nicht nur sehen, sondern auch bereit sind, ihre Stimme dagegen zu erheben. Wenn diese Menschen alle wirklich an die Urne gehen, halten wir die Rechtsextremen effektiv klein.

Die Rechten wollen ein "Europa der Egoisten"

Trotz dieses Optimismus haben sie zuletzt sehr intensiv vor einem Erstarken rechter Kräfte gewarnt. Welche Folgen befürchten Sie?

Die Rechten wollen ein Europa der Vaterländer, ein Europa der Egoisten. Sie wollen alle jeweils das größte Stück vom Kuchen abbekommen, auch auf Kosten der anderen Mitglieder. Das wäre eine andere EU. Wir würden nicht mehr gemeinsam daran arbeiten, dass es am Ende allen besser geht, sondern hätten einen permanenten Wettlauf gegeneinander. Und meine größte Befürchtung ist, dass so der Frieden in Europa nicht gewährleistet sein kann. Wenn sich jeder selbst der Nächste ist, dann geht das notgedrungen in die Konfrontation über. Wir sehen ja heute schon, wie Marine Le Pen oder die ehemalige PiS-Regierung in Polen hasserfüllt über Deutschland sprechen. Das nähme kein gutes Ende.

Die Rechten sind im Parlament über zwei Fraktionen verteilt und selbst innerhalb der Fraktionen teils massiv zerstritten. So liegen etwa die AfD und die Rassemblement National von Marine Le Pen über Kreuz. Schmälert das die Bedrohung nicht?

Es ist schon bezeichnend, dass selbst Marine Le Pen die AfD zu rechtsextrem ist. Mit denen will wirklich keiner mehr was zu tun haben. Am Ende werden sich extreme Nationalisten immer auch untereinander bekämpfen. Doch was sie eint, ist ihr gemeinsamer Feind: die Demokratie. Dass sie diese zurückdrehen wollen, darin sind sich alle Rechtspopulisten einig. Die Freiheit der Menschen steht dadurch auf dem Spiel.

Sie haben bereits 2023 gesagt: Manfred Weber habe die "Flanke nach rechts" der Konservativen in der EU geöffnet. Wie groß ist die Möglichkeit, dass sich die Europäische Volkspartei (EVP) noch weiter in diese Richtung bewegt?

Wir sehen ja schon, dass genau das passiert. Es ist kein Geheimnis, dass Weber gern die rechtsextreme italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni an die EVP binden möchte. Das sorgt auch innerhalb der EVP für Streit. Und man sieht auch auf der Ebenen der Mitgliedstaaten, dass Konservative die Türen nach rechts aufstoßen. Ich vermisse die klare Abgrenzung. Auch Ursula von der Leyen hat jetzt ausdrücklich gesagt, dass sie mit den ganz Rechten zusammengehen würde.

Warum Jüngere nach rechts abdriften

In Deutschland dürfen bei der EU-Wahl erstmals 16-Jährige mitbestimmen. Eine viel beachtete Studie zeigt: Jugendliche zwischen 14 und 29 in Deutschland driften nach rechts. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Experten führen das auf den Nachrichtenkonsum von jungen Menschen zurück. Sie informieren sich primär über TikTok und YouTube, und wir sehen alle, welche Verhältnisse da herrschen.

Sie meinen, dass Populisten auf den Plattformen auf emotionalisierte Inhalte setzen und diese von den Algorithmen bevorzugt werden.

Ja. Für uns als Politikerinnen und Politiker heißt das, wir müssen verstärkt auf diesen Plattformen unterwegs sein, um den Populisten nicht das Feld zu überlassen. Aber die Methoden, die Populisten in sozialen Medien anwenden, können und wollen wir als Demokratinnen und Demokraten nicht anwenden. Der "Digital Services Act" verpflichtet die Plattformen jetzt aber dazu, Falschinformationen zu bekämpfen und deren Verbreitung einzudämmen. Und wer das nicht tut, muss Strafe zahlen.

Die SPD liegt laut der Studie bei jungen Menschen mit zwölf Prozent lediglich auf dem vierten Platz hinter AfD (22) Union (20) und Grünen (18). Warum erreicht Ihre Partei die jüngeren Generationen nicht?

Umfragen können sich ändern. Die SPD steht dafür, dass jeder junge Mensch die Chance auf eigene Entscheidungen und ein gelingendes Leben hat, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Gerechtigkeit und Solidarität, unsere Grundwerte, stehen bei jungen Menschen hoch im Kurs. Wir tun immer mehr dafür, das praktisch sichtbar zu machen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Katarina Barley ist SPD-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments. Sie wurde am 19.11.1968 in Köln geboren. Nach dem Abitur studierte sie ab 1987 Rechtswissenschaften in Marburg, 1994 trat sie in die SPD ein. Bei der Bundestagswahl 2013 zog sie für die SPD in den Bundestag ein. Zwei Jahre später übernahm sie das Amt der Generalsekretärin. 2017 folgte das Amt als Bundesfamilienministerin. Von 2018 bis 2019 war sie Justizministerin, bevor sie als Spitzendkandidatin der SPD nach Brüssel wechselte.
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