Ministerpräsident Dietmar Woidke von der SPD verweist die AfD bei der Landtagswahl in Brandenburg hauchdünn auf Platz zwei, holt dort für seine Partei aber so wenig Stimmen wie noch nie seit 1990. Ein weiterer historischer Superlativ auf dem absteigenden Weg der gesamten SPD.

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Aufatmen bei den etablierten Parteien nach den Landtagswahlen im Osten: In Sachsen bleibt die CDU stärkste Kraft, in Brandenburg landet die SPD mit hauchdünnem Vorsprung vor der AfD auf Platz eins.

Doch mit 26,2 Prozent holte Spitzenkandidat und amtierender Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) dort so wenig Stimmen wie noch nie seit 1990. Ein weiterer historischer Superlativ auf dem absteigenden Weg der gesamten SPD.

Die rechtspopulistische AfD kommt auf 23,5 Prozent der Stimmen und legt damit im Vergleich zur Landtagswahl 2014 um 12 Prozentpunkte zu.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Landtagswahl in Brandenburg?

Lehre 1: Die SPD gewinnt knapp und verliert doch viel

Stolpe, Platzeck, Woidke: Seit der ersten Landtagswahl im Oktober 1990 wurden die Sozialdemokraten in Brandenburg stärkste Kraft, stellten den Ministerpräsidenten und waren an der Regierung beteiligt. Diese Traditionslehre ist auch durch die Landtagswahl am 1. September nicht gebrochen, wie ein Gewinner dürfte sich die SPD dennoch nicht fühlen.

"Die SPD hat trotz eines engagierten Wahlkampfes große Verluste erlitten. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Zeiten der Volks- oder Großparteien mit Wahlergebnissen um die 30 Prozent endgültig vorbei sind", so Politikwissenschaftler Dr. Benjamin Höhne vom Institut für Parlamentarismusforschung.

Die SPD gerate durch das historisch schlechte Ergebnis (2014 erreichte sie noch 31,9 Prozent) weiter in die Defensive. "Die Kraft der SPD, Interessen zu bündeln und diese in attraktive Programme zu übersetzen, ist erneut geschrumpft", beobachtet Höhne.

Einfluss der Bundespolitik überschätzt

Es dürfte nicht lange dauern, bis die ersten Ost-SPDler einen Schuldigen für diese Niederlage gefunden haben: Die Große Koalition aus CDU und SPD im Bund. "Natürlich gibt es immer einen Einfluss der Bundes- auf die Landesebene", hält Höhne fest. Das sei aber nicht die ganze Geschichte.

"Die unterschiedlichen Ergebnisse in Sachsen und Brandenburg sprechen dafür, dass landesspezifische Themen und Personen erheblichen Einfluss auf das Wahlergebnis hatten", so der Experte. Auf die GroKo in Berlin zu zeigen, sei also kein stimmiger Schachzug. In Sachsen kam die SPD gerade einmal auf 7,7 Prozent der Stimmen.

Lehre 2: Nicht so schlimm wie im Vorfeld vermutet

Auch, wenn die Verluste enorm sind – in Brandenburg verlieren CDU (-7,5) und Linke (-8,2) am deutlichsten –, gilt: Es kam nicht so schlimm, wie im Vorfeld vermutet. "Für die ehemaligen Volksparteien sind beide Wahlergebnisse relativ gut verkraftbar. Die Ministerpräsidenten werden wohl im Amt bleiben können, wenn sie einen dritten Regierungspartner mit ins Boot holen", analysiert Experte Höhne.

Dreier-Bündnissen rechnet er gute Chancen aus, besonders mit dem Argument, der AfD keine Chance zum Mitregieren zu eröffnen.

Der Landtag in Brandenburg mit Sitz in Potsdam besteht aus 88 Sitzen. Nach aktuellen Hochrechnungen kämen SPD (25 Sitze), Linkspartei (10 Sitze) und Grüne (10 Sitze) auf 45 Sitzen und hätten damit nur eine sehr knappe Mehrheit. Eine Kenia-Koalition aus SPD, CDU und Grünen wäre mit 50 Sitzen deutlich besser aufgestellt.

CDU muss sich klarer positionieren

"Die Auswirkungen der Wahl auf die Bundespolitik dürften daher eher gering sein", schätzt Höhne. Insbesondere die SPD sei ohnehin sehr mit sich selbst beschäftigt. "Sie will ihren Führungsprozess über die Bühne bringen. Dabei sind die Ursachen ihrer Krise weniger personell und vielmehr strukturell", erinnert der Experte.

Die Parteien seien besser beraten, sich nach außen hin zu öffnen, zum Beispiel auf veränderte Teilhabe- und Partizipationsansprüche der Bevölkerung einzugehen.

Die CDU müsse sich in Zukunft klarer positionieren. "Teile der CDU-Programmatik sind nicht weit von der AfD-Programmatik entfernt", beobachtet der Experte.

In der CDU gebe es zudem zwei Pole: Den rechten Flügel der CDU, der sich gerade formiert und ein stärkeres Annähern an die AfD befürworte, und den dominanten Mitte-Teil hinter Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer, die einen Abgrenzungskurs fordern und die Union in der politischen Mitte positionieren. "Die Wählerinnen und Wähler brauchen hier Klarheit", so Höhne.

Lehre 3: Ergebnisse der AfD sind ein erneuter Warnschuss

Die Zugewinne der AfD sind in Höhnes Augen ein erneuter Warnschuss an die etablierten Parteien. "Sie müssen endlich einen anderen Umgang mit der AfD finden", fordert der Experte.

Seit ihrer Gründung im Jahr 2013 konnten die Rechtspopulisten besonders im Osten bemerkenswerte Erfolge verbuchen. Zwar zog sie bislang nirgends als stärkste Kraft ins Landesparlament ein, aber bei der Europawahl im Mai wurde sie in Sachsen und Brandenburg Erster.

Im jetzigen Wahlkampf zog die AfD die Wut der SPD auf sich, weil sie den Willy-Brandt-Slogan "Mehr Demokratie wagen" plakatierte, oder damit warb, die "Wende zu vollenden". Der Thüringer Björn Höcke versprach sogar, die "politische Sonne" im Osten wieder aufgehen lassen zu wollen.

"Auch, wenn populistische Einstellungen vermehrt auftreten, spiegeln die starken Ergebnisse der AfD im Osten nicht das Gesamtbild in der Bundesrepublik wider", so Höhne.

In Brandenburg konnte die AfD besonders bei Wählern in wirtschaftlich schwachen oder dünnbesiedelten Regionen wie etwa der Lausitz punkten. Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die AfD 12,6 Prozent der Stimmen in der gesamten Bundesrepublik.

AfD steht vor strategischer Herausforderung

"Im Osten dürfte die AfD ihr Potenzial beinahe ausgeschöpft haben", so die Einschätzung des Experten. Aus dem verbesserten Wahlergebnis resultiere aber weder ein Anspruch auf Regierungsbeteiligung noch auf mehr Macht in der Bundespolitik, meint Politikwissenschaftler Höhne.

In Bezug auf die Bundeseben stünde die AfD vor einer strategischen Herausforderung. "Sie muss sich entscheiden, ob sie eine Wählermaximierungsstrategie fährt, oder den völkischen Flügel stärkt", erklärt der Experte.

Um mehr Wähler, auch im Westen, zu gewinnen, müsste die AfD eine gemäßigtere Programmatik bieten und sich an den klassischen CDU-Wählern orientieren. "Wenn der Höcke-Flügel an Einfluss gewinnt, ist das für viele bürgerliche Wähler ein No-Go und die AfD dürfte an Stimmen verlieren", vermutet Höhne.

"Rechtspopulismus ist eine Zeitgeisterscheinung, die in anderen Ländern schon viel früher zutage getreten ist. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen", so der Experte.

Lehre 4: Parteiensystem wird immer instabiler

Noch an andere Veränderungen werden sich die Wähler gewöhnen müssen: "Eine weitere Lehre aus der Wahl in Brandenburg: Die Zeiten der großen Stabilität des Parteiensystems, welche Deutschland über Jahrzehnte erlebte, sind vorbei", so Höhne. Der Osten sei dabei wie ein Demokratielabor, die Entwicklungen zeichneten sich hier schneller ab. Immer deutlicher polarisiert und zersplittert das Parteiensystem.

"Die Macht verteilt sich auf immer mehr Player, zwischen denen die Konflikte aber größer werden", erklärt Experte Höhne.

Für die gemäßigten Parteien in der Mitte wird die Luft immer dünner, während leichter mobilisierbare Themen und auch Extreme Zulauf erfahren. AfD (23,5) und Linkspartei (10,7) sind in Brandenburg zusammen mehr als doppelt so stark wie die CDU (15,6).

"Die Politik wird turbulenter, der Wählermarkt volatiler", beobachtet Höhne. In Europa ist diese Instabilität, geprägt von wackeligen Koalitionen und häufigen Regierungswechseln, längst Normalität.

"Dynamik und Bewegung kann aber auch positiv sein. Denn die Parteien müssen stärker in den Wettbewerb treten und können sich nicht auf den automatischen Zulauf über Stammwähler verlassen." Daher lehre die Wahl in Brandenburg auch, dass besonders gute Wahlkämpfe künftig noch mehr belohnt werden.

Lehre 5: Endlich Ost-West-Debatte angestoßen

Höhne kann der Wahl noch mehr Positives abgewinnen: 30 Jahre nach dem Mauerfall finde endlich eine innerdeutsche Debatte statt, die sich jenseits der Klischees von Jammerossi und Besserwessi tiefgründiger mit Befindlichkeiten beschäftige. "Ostdeutsche treten selbstbewusster auf und artikulieren häufiger unverhohlen ihre Meinung. Dies ist wiederum für Westdeutsche wichtig, um zu verstehen, wie der 'Osten tickt'", so der Experte.

Dr. Benjamin Höhne ist stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl) in Berlin. Er ist studierter Diplom-Politologe und lehrt seit 2016 an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf politischen Parteien, dem Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland sowie politischer Partizipation und Sicherheitspolitik.

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