Gegen Dortmund gelingt Meister Bayer Leverkusen abermals ein Tor in den letzten Spielminuten. Die unglaubliche Ungeschlagen-Serie der Werkself bleibt damit weiter bestehen. So erklärt ein Sportpsychologe die Last-Minute-Treffer in Bayers Fabel-Saison.

Eine Analyse
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Am vergangenen Sonntag war so weit: Champions-League-Halbfinalist Borussia Dortmund hatte den frisch gebackenen Deutschen Meister Bayer Leverkusen kurz vor einer Niederlage. Es wäre die erste Pleite für die Werkself in dieser Saison gewesen.

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Doch es kam anders: In der siebten Minute der Nachspielzeit nickte Bayern-Leihgabe Josip Stanisic zum viel umjubelten 1:1-Ausgleich ein. "Wir glauben einfach bis zum Schluss daran", sagte der Torschütze nach der Partie mit einem breiten Grinsen im Gesicht: "In dieser Saison ist natürlich auch ein bisschen Glück dabei. Wenn es läuft, dann läuft es."

Schon gegen West Ham gelang Leverkusen ein spätes Tor

Dank Stanisic bleibt die Ungeschlagen-Serie von Bayer Leverkusen in dieser Saison bestehen: Seit nunmehr 45 Pflichtspielen hat die Elf von Trainer Xabi Alonso nicht verloren. Den mutmaßlichen Rekord für die Ewigkeit von Juventus Turin aus der Saison 2011/12 überbot das Team bereits zuvor im Viertelfinal-Rückspiel der Europa League gegen West Ham United (1:1). Auch hier rettete Bayer ein später Treffer: Jeremie Frimpong netzte in der 89. Minute ein.

20 Pflichtspieltore hat der Meister in dieser Saison ab der 86. Minute erzielt, alleine 14 davon in der Nachspielzeit. Zwölf waren entscheidend für die Tendenz, sechs verhinderten sogar eine Niederlage. Einfach Glück – oder vielleicht doch Kopfsache?

Späte Tore haben auch Auswirkungen auf den Gegner

Dem Sportpsychologen Jürgen Walter zufolge lassen sich die späten Tore durchaus unter einem mentalen Gesichtspunkt erklären: "Bayer hat den Bayern-Dusel geerbt", stellt Walter im Gespräch mit unserer Redaktion klar. "Leverkusen hat den unbändigen Willen, nicht zu verlieren, beziehungsweise zu gewinnen. Sie haben den unbändigen Willen, noch eins zu machen. Natürlich gehört auch etwas Glück dazu, aber das kann man nicht trainieren – das Glück hat der Tüchtige", sagt Walter weiter.

Sportpsychologe Jürgen Walter
Sportpsychologe Jürgen Walter. © Jürgen Walter

Ex-Bayer-Spieler Jens Nowotny geht auch davon aus, dass die Leverkusener Last-Minute-Tore längst einen psychologischen Effekt auf die Gegner haben. "Es ist in den gegnerischen Köpfen drin, dass dieser banale Satz 'Das Spiel ist erst rum, wenn der Schiri abpfeift' gegen Leverkusen mehr Gewicht hat als gegen alle anderen Mannschaften", sagte der 50-Jährige am Montag am Rande der Verleihung der Sepp-Herberger-Awards in Berlin.

Ähnlich sieht es auch Walter, der die Gegner in solchen Fällen häufig in der "Gedankenfalle" sieht. "Du kannst nicht hoffen, dass du das Tor vernagelst und dann keins fällt, sondern du musst so spielen, wie du am besten spielst – egal wie es steht", erklärt der Diplom-Psychologe. "Wenn du das abrufen kannst, was grundsätzlich möglich ist, unabhängig von Spielstand und Tabellenplatz, dann bist du mental stark. (…) Das Spiel ist doch gleich: Das Tor ist immer gleich groß, der Ball ist immer gleich groß – es ist alles gleich. Nur das, was im Kopf passiert, ist nicht gleich."

Bayer Leverkusen profitiert von Wunder-Kombination

Für Ex-Bayer-Manager Reiner Calmund ist schnell klar, warum Leverkusen weiterhin ohne Niederlage in dieser Saison ist. In den knappen Spielen war Bayer "in fast allen Fällen hoch überlegen – meist von Beginn an", erklärt er im Interview mit unserer Redaktion. "Dieses 'Dranbleiben', diese Mentalität, macht auch den Meister aus. Wer bis zum Schluss daran glaubt, dass man die Bude trifft, der wird eben häufiger belohnt als die, denen nichts mehr einfällt", sagt der 75-Jährige.

Leverkusen zeichne in dieser Saison vor allem die "unglaubliche Spielfreude" aus, wie Sportpsychologe Walter betont. So entstehe auch ein positiver Kreislauf innerhalb des Teams. Die späten Tore geben Selbstvertrauen, durch das Selbstvertrauen ist auch der Glaube an die späten Tore da. Eine Wunder-Kombination, die Bayer in dieser Saison in andere Sphären befördert.

Jetzt will Alonso bis zum Ende ungeschlagen bleiben

In anderen Sphären war Trainer Alonso auch nach dem Stanisic-Tor gegen Dortmund, als er jubelnd zur Eckfahne sprintete und gemeinsam im Pulk mit seinen Spielern feierte. Für ihn war der Treffer ein "besonderer Moment", wie der Spanier im Anschluss gegenüber der Presse erklärte. Gleichzeitig gab er das große Ziel aus: "Die Challenge ist jetzt, bis zum Ende ungeschlagen zu bleiben. Das wäre top."

Xabi Alonso und Leverkusen-Team
Mittendrin: Xabi Alonso (oben) feiert den Ausgleichstreffer mit seinem Team. © IMAGO/Anke Waelischmiller/Sven Simon

Walter glaubt daran, dass die Ungeschlagen-Serie von Leverkusen bis zum Ende bestehen bleibt. "Die Frage ist, ob sie dann in der nächsten Saison auch mit dem gleichen Trainer wieder daran anknüpfen können. Das wieder so zu wiederholen, ist natürlich die Aufgabe."

Am kommenden Samstagabend kommt es in der Bundesliga zum Spitzenspiel: Leverkusen empfängt die Überraschungsmannschaft vom VfB Stuttgart, die derzeit auf dem dritten Platz steht. Angesichts der aktuellen Verfassung deutet vieles darauf hin, dass die Super-Serie von Alonsos Team weiter bestehen bleibt – vielleicht ja wieder dank eines Last-Minute-Treffers …

Über den Gesprächspartner

  • Jürgen Walter ist Diplom-Psychologe und Vorstandsvorsitzender im Verband der praktischen Sportpsychologie e.V. Daneben ist Walter Lehrbeauftragter der Fresenius Hochschule Düsseldorf und der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin. Der Sportpsychologe praktiziert in Düsseldorf.

Verwendete Quellen

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