Vor dem Champions-League-Spiel des VfB Stuttgart bei Roter Stern Belgrad am Mittwoch (18:45 Uhr) gibt es eine Reisewarnung, ein Vertreter des Vereins warnte im Vorfeld sogar, dass Lebensgefahr für die VfB-Fans bestehen könnte. Der Fanforscher Prof. Dr. Harald Lange schätzt im Gespräch mit unserer Redaktion die Lage in Belgrad ein und spricht über gefährliche Fan-Szenen in Europa.
Harald Lange, vor dem Champions-League-Spiel des VfB Stuttgart bei Roter Stern Belgrad gibt es eine Reisewarnung, der Stuttgarter Vereinsbeirat André Bühler hatte in einem mittlerweile gelöschten Post bei X geschrieben, dass für VfB-Fans Lebensgefahr bestehe, wenn Sie sich Tickets für Plätze außerhalb des Gästeblocks oder sogar für den Heimblock kaufen. Wie ernst sind diese Warnungen zu nehmen?
Harald Lange: Mich hat ein Stück weit irritiert, ob dieser Post jetzt eine private Meinung dieses Vereinsbeirats war oder ob sich diese Einschätzung mit der Warnung des Vereins deckt. Ich würde in solchen Dingen immer empfehlen, dass man sich an die offiziellen Vereinspositionen hält. Der Verein ist durch seine Fanarbeit und seine Fanbetreuer mit der ganzen Reise betraut, der Verein kann solche vermeintlichen Gefahrensituationen realistisch einschätzen und die entsprechenden Hinweise geben. Einen Verweis auf Lebensgefahr, wenn man sich nicht im Gästeblock aufhält oder gar Tickets für den Heimblock kauft, finde ich martialisch verängstigend.
Ich bin mir nicht sicher, ob das mit der Fanarbeit des Vereins so abgesprochen war. Für mich hat das so ein Geschmäckle, da ist so ein bisschen populistische Panikmache dabei. Wohl wissend, dass Belgrad in Sachen Fußball und Fußballfans ein "heißes Pflaster" ist. Aber das wissen wir seit vielen Jahren, seit vielen Jahrzehnten. Ähnlich wie bei Auswärtsfahrten zu einigen anderen europäischen Klubs, muss man sich in Belgrad besonders vorsehen.
Wer sich zu verhalten weiß, hat nichts zu befürchten
Also würden Sie nicht davon sprechen, dass die Auswärtsreise nach Belgrad für die VfB-Fans lebensgefährlich ist?
Es ist ja nicht das erste Mal, dass Fans von deutschen Vereinen nach Belgrad reisen. Und Fans, die solche Auswärtsfahrten machen, sind in aller Regel auch vertraut mit der Art und Weise, wie man sich vor Ort verhält. Das Sicherheitspersonal vor Ort macht in den allermeisten Fällen einen sehr guten Job und passt auf, dass sich zum Beispiel die Fanblöcke nicht vermischen. Deshalb ist es etwas über das Ziel hinausgeschossen, so viele Tage vor dem Spiel vor lebensgefährlichen Situationen zu warnen. Natürlich wissen wir, dass die Reisen zu bestimmten Vereinen durchaus ein Gefahrenpotenzial haben. Aber deshalb stellen wir uns darauf ein. Und dann passiert meistens vergleichsweise wenig, eben weil man vorbereitet dorthin fährt.
Ich weiß nicht, welche Informationen diesem Post und der Reisewarnung zugrunde liegen. Aber Fakt ist, wenn wirklich Lebensgefahr bestehen würde, dann müsste man ganz klar davon abraten oder es sogar verbieten, nach Belgrad zu fahren. Das könnte man dann nicht in Kauf nehmen. Aber in der Stellungnahme des VfB Stuttgart war ja glücklicherweise nicht von Lebensgefahr die Rede. Ich finde es auch gut, dass wir das thematisieren. Weil zum Sicherheitskonzept des Fußballs gehört erstens, dass man Gefahren realistisch einschätzt und realistisch beschreibt. Und zweitens, dass man nicht auf Kosten der Fankultur Populismus betreibt, ohne dafür belastbare Anhaltspunkte zu haben. Das ist nicht förderlich.
Wie wird die Gefahrenlage vor einem solchen Spiel eingeschätzt?
Im Vorfeld so eines Spiels kommen die Sicherheitskräfte, die Vertreter der Vereine und die Fanbeauftragten zusammen und schauen sich die Sicherheitslage genau an. Dann gibt es konkrete Empfehlungen, bis hin zu dem Punkt, dass die Uefa zu bestimmten Spiele keine Gästefans zulässt. Weil man einerseits von den Gästefans ein Gefahrenpotenzial erwartet, oder andererseits der ausrichtende Verein und die ausrichtenden Sicherheitsbehörden dieses Problem nicht managen können.
In diesem Punkt war die Uefa in den letzten zwei Jahren hochsensibel. Es ist oft vorgekommen, dass Gästefans der Zutritt verweigert wurde. Ihnen wurde häufig davon abgeraten, überhaupt ins Land oder in die Stadt zu fahren. Geschweige denn ins Stadion zu kommen. Selbst bei geringen Verdachtsmomenten hat die Uefa keine Gästefans zugelassen. Vor dem Spiel des VfB Stuttgart in Belgrad habe ich davon nichts vernommen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Gefahrenlage eine normale ist, wie man sie von Spielen in Belgrad kennt. Und dann tut man sich in der Sicherheitsarbeit keinen Gefallen, wenn man - warum auch immer - plötzlich populistisch wird. So ist eine unglückliche Ausgangslage entstanden, die für Verunsicherung sorgt.
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Der VfB Stuttgart hat in seiner Mitteilung an die mitreisenden Fans davor gewarnt, dass Teile der Belgrader Fanszene "gewaltsuchend und der organisierten Kriminalität" zugehörig seien. Wie schätzen Sie die Fanszene von Roter Stern ein?
Das stimmt. Teile der Belgrader Fanszene sind tatsächlich kriminell und gewaltsuchend. Aber eben nicht die ganze Belgrader Fanszene. In diesem Jahr haben schon einige Spiele in Belgrad stattgefunden. Die Stimmung ist natürlich aufgeladen, es passieren auch Vorfälle, aber in den letzten Monaten habe ich nichts Außergewöhnliches beobachten können. Die Lage ist so, wie man sie allgemein kennt. Hinweise, wie nicht im Trikot durch die Innenstadt zu laufen, werden auch ausgesprochen, wenn deutsche Fans nach Neapel, nach Rom oder nach Marseille reisen. Dort gibt es dann oft organisierte Fan-Märsche, auf denen die Fans von Sicherheitskräften geschützt werden. Bei diesen Märschen kann man dann sein Trikot oder seinen Fan-Schal tragen.
Was müssen die Stuttgarter Fans aus Ihrer Sicht in Belgrad beachten?
Wir wissen, dass es ein anderes Gefahrenpotenzial gibt, wenn du als Fan nach Marseille, nach Rom oder eben nach Belgrad fährst, als wenn du nach Hoffenheim oder nach Leipzig fährst. Aber das weiß auch jeder Fan, der zu solchen Auswärtsspielen fährt. Es sind in der Regel erfahrene Fans, die unter der Woche eine Reise zu so einem Spiel unternehmen. Und diejenigen, die zum ersten Mal zu einem solchen Spiel fahren, schließen sich den erfahrenen Fans an.
Es gibt allgemeine Verhaltensregeln. Zum Beispiel dass man selbstverständlich in seinem Block bleibt. Dass man nicht seinen Schal präsentiert, wenn man alleine durch die Innenstadt läuft. Dass man sich allgemein einfach ein wenig zurückhält. Aber auch das würde ich nicht in Stein gemeißelt sehen. Auch bei solchen Klubs können sich Gelegenheiten ergeben, aufeinander zuzugehen, Freundschaften zu schließen und miteinander ein Fußballfest zu feiern.
Uefa Maßnahmen zeigen nur bedingt Wirkung
Sie haben Olympique Marseille, Lazio Rom und die SSC Neapel aufgezählt, natürlich auch Roter Stern Belgrad. Haben diese Vereine die gefährlichsten Fan-Szenen in Europa?
Das sind zumindest die Orte, die mir einfallen, an denen deutsche Fans in den letzten Jahren Probleme hatten. Insbesondere in Marseille kommt das immer wieder vor. Das Champions-League-Spiel von Eintracht Frankfurt in Marseille im September 2022 war extrem chaotisch. Ein Eintracht-Fan wurde von einer Rakete getroffen und lebensgefährlich verletzt. Ich habe mich damals intensiver mit den Vorfällen befasst und mit Eintracht-Fans gesprochen. Sie wurden quasi schon bei der Anfahrt verfolgt, regelrecht gejagt.
Die Sicherheitskräfte und die Polizei waren hoffnungslos überfordert. Die Fans wurden in Busse gepfercht, man hat sie stundenlang warten lassen ohne Toiletten. Nach dem Spiel wurden sie wieder in Busse gepackt, irgendwo hingefahren und praktisch ihrem Schicksal überlassen. Das war dilettantisch damals. So etwas muss von der Uefa ausgewertet werden.
In der gleichen Saison durften die Fans von Eintracht Frankfurt nicht zum Achtelfinal-Spiel nach Neapel reisen, woraufhin es trotzdem zu schweren Ausschreitungen kam. Sie haben bereits die Praxis der Uefa erwähnt, in den letzten Jahren bei bestimmten Spielen keine Auswärtsfans zuzulassen. Sehen Sie internationalen Auswärtsreisen von Fußballfans in Gefahr?
Es gibt Indizien dafür, weil die Uefa mehrfach schon dieses Neapel-Beispiel durchgehen lassen hat. Ein Veranstalter ist nicht in der Lage, für die Sicherheit zu garantieren und sagt, es wird zu gefährlich. Dann wird eine schnelle Lösung gesucht, dass eben keine Auswärtsfans kommen dürfen. In Neapel hat man damals extrem dünnhäutig agiert.
Angefangen beim damaligen italienischen Innenminister Matteo Piantedosi, von dem sich später herausgestellt hat, dass er Neapel-Fan ist. Die Eintracht war zu dieser Zeit bekannt dafür, aus Auswärtsspielen dank ihrer Fans Heimspiele zu machen. Da schwang die Angst mit, dass man dann das Spiel nicht gewinnen kann. Das war fadenscheinig, zumal die Eintracht-Fans vorher nicht durch Gewalt aufgefallen waren, sondern beispielsweise das Spiel in Barcelona zu einem Heimspiel gemacht hatten.
So etwas muss man aus dem Fußball raushalten, weil Leidenschaft und Stimmung genau das ist, was man haben will: Fußballfans, die während des Spiels der zwölfte Mann ihrer Mannschaft sind. Uefa-Präsident Aleksander Čeferin hatte damals nach Protesten angekündigt, die Regeln ändern zu wollen: Wer kein Spiel mit Gästefans durchführen kann, verliert sein Heimrecht.
Die Fans von Lazio Rom sind im Frühjahr vor dem Champions-League-Spiel in München durch faschistische Gesänge und das Zeigen des Römer-Grußes aufgefallen. Gibt es in den Fan-Szenen parallel zu den Gesellschaften einen Rechtsruck?
Man sagt ja allgemeinhin, dass der Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Und das ist von Land zu Land entsprechend verschieden. Nach meiner Beobachtung ist der Ruck im Fußball aber nicht ganz so rechts wie in der Politik und der Gesellschaft in manchen Ländern. Zumindest passiert das nicht in der gleichen Geschwindigkeit. Insbesondere in Deutschland ist davon fast nichts zu spüren. Im Gegenteil, der Fußball ist sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und gesamtgesellschaftlich gesehen eher eine Instanz, die vor dem Rechtsruck schützt.
Wir hatten diese Nazi-Probleme in verschiedenen Vereinen in den 1980er und 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts sehr ausgeprägt. Jetzt kommt so etwas weitestgehend vereinzelt vor. Es ist immer noch da, aber längst nicht so, dass es Sorge bereiten muss, dass da irgendeine Bewegung im Gange ist.
Gewaltbereitschaft der Fanszene unterscheidet sich je nach Zugehörigkeit
Gibt es nach Ihrer Einschätzung Fan-Szenen in Deutschland, die man als gefährlich einstufen könnte?
Es ist natürlich schwierig, so etwas pauschal zu sagen. Wenn man sich die Ereignisse der letzten Jahre anschaut, dann ist die Fan-Szene um Hansa Rostock mit Gewaltaktionen aufgefallen, die man nicht mehr mit Missverständnissen oder dem Hochschaukeln von Situationen erklären kann. Ende Oktober wurde ein Sonderzug mit Fans aus Essen überfallen, das sind schon Extremereignisse. Das kann man schon negativ benennen.
Grundsätzlich gibt es natürlich bei allen Vereinen gewaltbereite Fans. Aber nach meiner Einschätzung ist bei keinem Verein eine besondere Gefahr im Verzug, die besondere Maßnahmen erfordern würde. Das kriegt der Fußball insgesamt schon ganz gut hin.
Zum Abschluss noch der Blick nach Südamerika. Dort sorgen vor allem immer wieder die schweren Ausschreitungen rund um das Derby zwischen River Plate und den Boca Juniors in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires für Schlagzeilen. Sind die Fanszenen dort radikaler und leidenschaftlicher als in Europa?
Ja, dort sind mehrere Dinge unterschiedlich. Die Mentalität und die Leidenschaft sind dort auch gesamtgesellschaftlich anders als bei uns in Deutschland. Die Stadien sind anders gebaut, die Sicherheitsvorkehrungen sind anders, das Sicherheitspersonal ist anders geschult und geht auch anders mit Fans und mit aufkommenden Konflikten um. Es sind ganz viele Faktoren im Spiel, die dann letztlich zu dem Ergebnis führen, dass das Gewaltthema und die Fankultur sich stark von unserer unterscheiden. Auch wenn es aufgrund der vielen Parameter schwierig ist, das pauschal zu vergleichen.
Über den Gesprächspartner:
- Prof. Dr. Harald Lange leitet am Institut für Sportwissenschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg den Bereich Fan- und Fußballforschung.
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