Während die Handballer, Eishockey-Cracks oder die Basketballer die Fans begeistern und regelmäßig Erfolge feiern, stolpern die deutschen Fußballer von einer Krise in die nächste. Was können die DFB-Jungs von den vermeintlich kleineren Sportarten lernen? Unser Gespräch mit Sport-Psychologin Marion Sulprizio zeigt: Es gibt einiges.
Eigentlich ist es ganz einfach. Der neue Bundestrainer Julian Nagelsmann muss gar nicht in die Ferne schweifen oder nach ausgefallenen Methoden schauen. Stattdessen könnte er für den Neustart der deutschen Fußball-Nationalmannschaft unter seiner Regie Videos zeigen. Nein, keinen Film über Wildgänse wie bei seinem Vorgänger Hansi Flick, sondern über die deutschen Handballer. Über die Cracks des Deutschen Eishockey-Bundes. Oder über die Basketball-Weltmeister. Denn die haben bei vergangenen großen Turnieren gezeigt, wie es geht.
Sie haben bewiesen, wie Mannschaften funktionieren müssen, wie sich Erfolg entwickeln und eine Nation begeistert und mitgerissen werden kann. Es gibt sie, die kleinen Erfolgsgeheimnisse, von denen auch der deutsche Fußball noch lernen kann. "Es fallen natürlich Begriffe wie Teamgeist, soziale Ansteckung im positiven Sinne, also sozialer Flow, oder eine intrinsische Motivation", sagt Sport-Psychologin Marion Sulprizio von der Sporthochschule Köln im Gespräch mit unserer Redaktion. "Dazu kommt eine etwas demütige Haltung, die wir im Fußball ja so eigentlich nicht kennen. Es gibt definitiv ein paar Stellschrauben, an denen man drehen könnte."
Teamgeist kann man lernen
Bei den vermeintlich kleineren Sportarten ist die mannschaftliche Geschlossenheit stets das wohl größte Pfund. So war NBA-Star
Beim Fußball ist es oft anders, da "schauen die Spieler eher auf sich, und durch die größere Aufmerksamkeit, die der Fußball genießt, schauen die Menschen von außen wiederum viel kritischer hin", so Sulprizio. Dadurch könne sich unterschwellig in den Köpfen so etwas wie Angst oder Unsicherheit festsetzen. Der Vorteil der Handballer oder Basketballer: "Sie spielen erst einmal frei raus und sind nicht so gehemmt, fühlen sich vielleicht auch nicht so sehr beobachtet. Das hilft, in bestimmten Situationen ein bisschen entspannter und weniger gestresst zu sein."
Das Gute ist: Die Psychologie bietet einige Möglichkeiten, denn viele Dinge kann man lernen. Wie zum Beispiel mit Druck umzugehen, ihn auszuhalten. Für jeden Menschen gebe es eine optimale Aktivierungslage, einen optimalen Druck, sagt Sulprizio. Also eine Anspannung oder ein Stresslevel, bei dem man bestmöglich abliefern kann.
Diesen Punkt zu treffen, ist die große Kunst, die zuletzt die Basketballer so eindrucksvoll zelebriert haben. Aber auch die deutschen Eishockey-Cracks schüttelten bei der WM im Mai die Bürde von zahlreichen Spieler-Absagen und drei Auftakt-Niederlagen ab und holten sich im Laufe des Turniers noch Silber.
Dank Teamgeist von Sieg zu Sieg geeilt
Auch in diesem Fall trug vor allem der Teamgeist die Mannschaft zu sechs Siegen in Folge und zum sensationellen Finaleinzug. Der Vorteil: Diese Nationalmannschaften werden von der Öffentlichkeit in der Regel nicht mit Erwartungen überfrachtet, sie können so ihre eigene Dynamik entfalten. Der Druck hemmt nicht, er kitzelt das Maximum heraus. Der Auftritt wirkt nicht verbissen, sondern beflügelt.
Sulprizio nennt das den "sozialen Flow. Es funktioniert überwiegend alles, ohne dass ich mich selber dafür groß anstrengen muss. Ich habe das Gefühl, dass das, was wir machen, gut ist. Ich habe das Gefühl, ich gehöre dazu. Ich gehöre in diese Gruppe".
Eine Mannschaft muss versuchen, in diesen sozialen Flow reinzukommen, dass sie als Gruppe so funktioniert, dass es sich für sie weniger anstrengend anfühlt. Auch das treibt an.
Und es ist nicht so, als hätten die Fußballer das nicht schon geschafft. Das Sommermärchen 2006 ist ein Paradebeispiel. Nicht umsonst hat Nagelsmann bei seiner Antritts-Pressekonferenz im Hinblick auf die Heim-EM 2024 vom "Sommermärchen 2.0" als "Idealvorstellung" gesprochen. Denn da stimmte alles: Der Geist in der Mannschaft, das Umfeld, die Symbiose mit den Fans und am Ende dann auch der Erfolg.
Bessere Form der Motivation finden
Und ja, auch am Teamgeist kann man arbeiten. Es reicht aber nicht, zusammen ein paar Events abzuhalten. Oder einen Film über Basketballer oder Handballer zu schauen. Oder Wildgänse. Es geht darum, "Teamgeist wirklich zu leben und wirklich zu fühlen, es muss auch ankommen und angenommen werden", sagt Sulprizio.
Testspiele seien im Grunde nichts anderes als Events, die man nutze, um Teamgeist zu produzieren. Von einem Teamgeist ist neun Monate vor der EM aber noch nicht viel zu spüren. Hier ruhen die Hoffnungen auf Nagelsmann, der angekündigt hat, dass man eine Struktur geschafft habe, um die Ziele zu erreichen. Der 36-Jährige bringt frischen Wind, und auch ein paar neue Ideen mit.
Was ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, ist die Motivation. Und der Vorwurf an die Fußballer, zu satt zu sein. Die Basketballer wurden von einer Lust am Spiel, von einer kindlichen Freude am Erfolg durch das Turnier getragen.
Bei der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) wirkte es zuletzt zu oft, als sei die Mannschaft gelähmt, überspielt, gehemmt und lustlos. "Ich könnte mir gut vorstellen, dass das Zu-satt-sein eine Rolle spielt, weil es den psychologischen Mechanismus beschreibt, dass man sich einfach nur durch eine äußere Belohnung auf die Sache einlässt und das Herzblut fehlt", sagt Sulprizio.
Die Psychologie spricht dabei von extrinsischer und intrinsischer Motivation, dass man also nicht aufgrund von äußeren Einflüssen, sondern aufgrund von Spaß und Wohlbefinden etwas macht. "Das ist eine bessere Form von Motivation. Es ist nicht schlecht, extern motiviert zu sein. Aber längerfristig bleibe ich an der Sache dran, wenn ich die aus mir selbst heraus mache", sagt die Expertin, die den Fußballern nicht unterstellen will, dass sie nur wegen des Geldes Fußball spielen. "Aber das Geld spielt natürlich eine Rolle."
Authentisch und bodenständig
Auch hier besteht die Möglichkeit, mit den Sportlern zu arbeiten, um die innere Motivation zu finden und vor allem zu fördern. Um Fragen zu beantworten wie: "Warum spielst du so gerne Fußball? Oder warum ist das für dich das Größte, bei einer EM dabei zu sein? Was macht dich daran glücklich? Das kann man aufarbeiten. Das ist wahrscheinlich bisher noch gar nicht so geschehen", sagt Sulprizio. "Es geht auch viel mit Reflexion, indem man Dinge niederschreibt, Werte für sich definiert."
Zu persönlichen Werten gehört es auch, nahbar und authentisch zu sein, bodenständig und demütig. Um die Fans für sich zu gewinnen. Etwas, das die Fußballer in den letzten Jahren verlernt haben, der Kontakt zur Basis ist zu einem Großteil verloren gegangen. Dabei kann der Rückhalt durch die Nation einer Mannschaft ebenfalls Auftrieb verleihen. Auch hier hilft den Fußballern ein Rückblick auf 2006, als ein ganzes Land mit der Mannschaft in gemeinsamer Euphorie verschmolz und sich alle in den Armen lagen. "Authentizität und Identität haben etwas miteinander zu tun. Wie sehr identifiziere ich mich mit dem, was ich da tue? Und bin ich dann noch ich selbst? Das ist im Fußball wahrscheinlich weniger möglich", sagt Sulprizio.
Lockerer und freier auf der medialen Bühne
Handballer oder Basketballer wirken authentischer, weil sie keinen Maulkorb tragen, in keiner PR-Maschinerie feststecken und in der Regel auch keine Millionen verdienen. Es wird im Fußball nun mal "sehr genau darauf geschaut, was gesagt und getan wird", weiß Sulprizio. "Da wird alles sofort kritisiert und auseinandergenommen, sodass die Fußballer vielleicht gar nicht so die Möglichkeit haben, authentisch zu sein, weil sie sich in gewisser Weise bedroht und gehemmt fühlen".
Deshalb ist es auch undenkbar, dass sie sich vor laufenden Kameras und damit auf offener Bühne zoffen können, wie Schröder und Daniel Theis bei der WM. Ein fruchtbarer Streit, der im Anschluss auch medial aufgegriffen, aber nicht negativ ausgeschlachtet wurde. Vor allem hat er dem Team auf dem Weg zu Gold geholfen, er setzte neue Kräfte frei. "Das wäre auch etwas, das man lernen kann", stellt Sulprizio klar. "Dass man auch, wenn man streitet, anschließend trotzdem wieder ein gutes Team sein kann." Ganz unkompliziert. Denn manchmal ist es tatsächlich sehr einfach.
Zur Person:
- Diplom-Psychologin Marion Sulprizio ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen Institut in der Abteilung Gesundheit und Sozialpsychologie der Sporthochschule Köln. Daneben ist sie Geschäftsführerin der Initiative "MentalGestärkt".
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