Terrorgefahr, Arbeitslosigkeit, Streiks, Demonstrationen: Frankreich ist derzeit ein arg gebeuteltes Land. Doch ein EM-Triumph der Équipe Tricolore könnte eine neue Euphorie im Gastgeberland auslösen. Ob sie einen dauerhaften Effekt haben wird, ist allerdings umstritten.
Selten war vor einem Fußball-Großereignis so wenig Euphorie zu spüren wie vor der EM 2016 in Frankreich. Kein Wunder: Unser größtes Nachbarland befindet sich seit Monaten im Ausnahmezustand. Neben der allgegenwärtigen Terrorgefahr nach den Pariser Anschlägen im November lähmten Demonstrationen gegen die geplante Arbeitsmarktreform und Streiks das öffentliche Leben. Auch die hohe Arbeitslosigkeit und der schwelende Rassismus, mit dem vor allem Muslime und Einwanderer zu kämpfen haben, verschlechtern das gesellschaftliche Klima. Der rechtsextreme Front National ist längst mehrheitsfähig geworden.
Doch nun schwappt doch noch eine kleine Euphoriewelle übers Land: Nach dem 2:0-Erfolg gegen die deutsche Nationalmannschaft feierten die Franzosen landesweit mit Autokorsos und Hupkonzerten bis tief in die Nacht den Finaleinzug. In Bars sangen Fans die Marseillaise, die französische Nationalhymne. Drei Wochen nach ihrem Beginn scheint die EM endlich in den Herzen der Gastgeber anzukommen. Doch könnte der Titel tatsächlich gesellschaftliche Wunden heilen, wie manche nun hoffen? Was macht so ein Erfolg überhaupt mit einem Land?
Experte: Fußball löst nicht Probleme der Gesellschaft
Eines ist jetzt schon sicher: Angesichts massiver Sicherheitsvorkehrungen, Terrorangst, Hooliganausschreitungen sowie der teils mäßigen Stimmung wird diese EM nicht als sonderlich gelungen oder unbeschwert in die Geschichtsbücher eingehen. "Einzig der EM-Titel könnte das Turnier für Frankreich noch zu etwas Besonderem machen", stellt beispielsweise die "Welt" fest.
Ganz anders war es bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, als fast das ganze Land beim "Sommermärchen" mitfieberte, durchgängig Traumwetter herrschte und die Fanmeilen aus allen Nähten platzten.
In Frankreich zeigt sich aktuell ein anderes Bild. "Das Land ist in einer sozial angespannten Lage. Da kann der Fußball nicht die Rolle des Hoffnungsträgers übernehmen", erklärte der Sportsoziologe Albrecht Sonntag der "Taz". Es werde nicht erwartet, "dass er die Probleme der Gesellschaft löst."
Vergleichbar ist das mit dem "Wunder von Bern" 1954, dem ersten WM-Sieg der unter den materiellen und psychologischen Kriegsfolgen leidenden BRD. Denn erst im Rückblick wurde der 3:2-Sieg gegen Ungarn als wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik stilisiert. "Die Mannschaft brachte zwar einen Pokal mit nach Hause", heißt es in einem Beitrag der Bundeszentrale für Politische Bildung. "Doch sie hatte keinen Einfluss auf die politischen Verhältnisse und löste keines der gesellschaftlichen Probleme in der Bundesrepublik." Eine neue gemeinsame Identität sei nicht geschaffen worden.
Auch in Frankreich erwartet kaum jemand, dass die Massenproteste gegen die Arbeitsmarktreform nach der EM abrupt abreißen. Die französischen Fluglotsen und Piloten führten ihre Streiks während des Turniers weiter. Und schließlich wurden die Titelkämpfe gleich zu Beginn vom Mord eines IS-Sympathisanten an einem Polizisten und dessen Partnerin in der Nähe von Paris überschattet. Wo soll da die ganz große Euphorie herkommen?
Hoffnungen nach WM 1998 enttäuscht
Selbst im Falle des Triumphes gegen die Portugiesen am Sonntag wären die Langzeitfolgen für die Grande Nation schwer zu messen. Bestenfalls wird sich die Stimmung zwischen Nordsee und Mittelmeer, zwischen Atlantik und Alpen eine Zeit lang etwas aufhellen - oberflächlich. Die strukturellen Probleme wie der Rassismus und die Polarisierung der Gesellschaft werden bleiben.
Schon nach dem WM-Titel 1998 gab es große Hoffnungen, die Multikulti-Truppe um Zinedine Zidane (Sohn algerischer Einwanderer), Lilian Thuram (geboren auf Guadeloupe), Bixente Lizarazu (baskische Wurzeln) und Marcel Desailly (in Ghana adoptiert) könnte die 60-Millionen-Nation verändern und die Integration auch außerhalb des Rasens unterstützen. Der damalige Präsident Jacques Chirac verkündete: "Frankreich hat seine Seele wiedergefunden." Doch die Hoffnungen wurden enttäuscht.
Die abgehängten Jugendlichen mit afrikanischen und arabischen Wurzeln aus den Vorstädten führen heute kein besseres Leben. "Die Weißen, die alteingesessenen Franzosen, haben nicht mitgemacht", analysiert der Frankreich-Experte Axel Veiel in der "Freien Presse". 2005 brachen in den Vorstadt-Ghettos gewalttätige Unruhen aus. Nicht umsonst rekrutieren sich auffällig viele französische IS-Unterstützer aus diesen Milieus.
Steigende Umfragewerte für Politiker
Der mögliche Titelgewinn werde "nichts Langfristiges" bewirken, ist Soziologe Albrecht überzeugt. "Ein EM-Titel bewirkt eine kurzfristige Freude darüber, dass man in einer sozial-kulturellen Praxis, dem Fußball, der in vielen Ländern und Kulturen der Welt größte Wertschätzung genießt, die anerkannte Nummer eins ist."
Der Titel würde auch den unbeliebten Präsidenten Francois Hollande freuen, der dann mit steigenden Umfragewerten rechnen darf. Deutschlands Triumph in Brasilien 2014 zementierte die Beliebtheit von Kanzlerin Angela Merkel und ihre damals sehr guten Umfragewerte. Als "Balsam für Herz und Seele" diene diese EM, sagte eine Pariserin nach dem Halbfinale in einem Interview. Angesichts der enormen Probleme im Land darf man den Franzosen den Titel also durchaus gönnen. Danach wird sie die Realität schnell wieder einholen.
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