Das Spiel der deutschen Nationalmannschaft bleibt ein wackeliges Gebilde, der Bundestrainer weiter unter strenger Beobachtung. Joachim Löw und sein Team treten gefühlt auf der Stelle - dabei drängt so langsam die Zeit. Oder gibt es noch Rettung? Eine Bestandsaufnahme.
Die Taktik unter Joachim Löw
Dreierkette oder Viererkette? Zwei Angreifer oder drei? Eine Doppel-Sechs oder nur ein defensiver Mittelfeldspieler?
Die eine Erkenntnis ist: Die einzelnen Bauteile sind da. Die andere: Sie passen noch immer zu selten zusammen.
Im Testspiel gegen die Türkei passte die Defensivbewegung einer wild zusammengewürfelten deutschen Mannschaft nicht, dafür funktionierte die Offensive in Ansätzen ganz gut.
Gegen stark ersatzgeschwächte Ukrainer ließ Löw etwas risikoärmer agieren und stärkte damit die Defensive - in der Offensive tat sich gegen einen allenfalls zweitklassigen Gegner aber viel zu wenig.
Und im letzten Spiel gegen die Schweiz kehrte Löw dann wieder zur Viererkette und einem 4-3-3 zurück. Das förderte offensiven Wirbel und ein ordentliches Positionsspiel zu Tage, geriet aber besonders in den Umschaltmomenten nach einem Ballverlust zu einem regelrechten Durcheinander.
Gegen die Ukrainer war das Zentrum im Mittelfeld verwaist, das Loch zwischen Mittelfeld und Angriff zu groß. Gegen die Schweiz passte das Durchsichern weiter hinten nicht. Sobald sich die Mannschaft in einer Disziplin verbessert, schludert sie in einer anderen.
Acht Tore in drei Spielen sind eine starke Quote - sieben Gegentore in drei Spielen nicht akzeptabel. Die Kritiker rufen schon länger nach einem festen System, Löw will aber einigermaßen flexibel bleiben. Nur müssen sich dafür demnächst auch die Puzzlestücke zusammenfügen.
Das Personal
Löw fiel nach dem Spiel gegen die Schweiz spätnachts noch mit einer nur auf den ersten Blick unscheinbaren Aussage auf. "Wir haben heute in der Defensive ein paar Fehler gemacht, weil wir bewusst hohes Risiko gegangen sind. Wir wollten auch mal sehen, was wir im Eins-gegen-Eins drauf haben", sagte der Bundestrainer auf der Pressekonferenz.
Das ist aus mehreren Gesichtspunkten interessant: Es impliziert eine "gewollte Gefahr", was so ziemlich jedem defensivtaktischen Ansatz widerspricht, und es stellt ein paar Spieler ins Schaufenster, die die Dinge eigentlich anders regeln sollten.
Die deutschen Innenverteidiger konnten in allen drei Spielen kaum Pluspunkte sammeln.
Und dass Löw mit seinem riskanten Ansatz gegen die Schweiz eine Disziplin, das direkte Duell gegen einen Angreifer, so in den Fokus stellte, überraschte: Früher waren deutsche Innenverteidiger oder Vorstopper darin gefürchtet, mittlerweile sollen die Spieler erst gar nicht mehr in Situationen wie diese kommen. Die gute alte Grätsche wird den Spielern in gewisser Weise abtrainiert - dabei wäre sie ab und an dann doch noch vonnöten.
Im Angriff hat Kai Havertz gezeigt, dass er in diese Mannschaft gehört und Julian Draxler ein Ergänzungsspieler bleibt; Joshua Kimmichs Einsatzzeiten auf der rechten Abwehrseite sollten auch passé sein, der Münchener gehört ins zentrale Mittelfeld.
Und die Leipziger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg? Sind als Außenverteidiger in der Viererkette gut aufgehoben, als Flügelspieler in einer Konstellation mit Dreierkette dahinter aber weniger.
Die Stimmung im DFB-Team
Vor sechs Jahren hatte Deutschland die beste Mannschaft der Welt, die Sympathiewerte gingen durch die Decke. Seitdem ging es nicht nur sportlich bergab, sondern auch hinter den Kulissen. Die Sommermärchen-Affäre und ihre ungenügende Aufklärung, die Fluktuation in der präsidialen Spitze, allerhand Marketing-Sperenzchen, zuletzt die Steuer-Razzia: Die Fans haben keine Lust mehr auf den DFB und sein Treiben.
Und die Mannschaft liefert nur wenige Argumente, dass sich daran in absehbarer Zeit wieder etwas ändern könnte. Es will einfach keine Aufbruchstimmung aufkommen, geschweige denn eine neue Euphorie rund um das Team. Der Spaß an und mit der Mannschaft ist abhanden gekommen. Auf durchwachsene Leistungen folgt die entsprechende Kritik von Medien und Experten und die Replik der DFB-Verantwortlichen darauf. Zumeist gemäßigter formuliert, im Kern aber durchaus pointiert. Das ist das explosive Gemisch derzeit.
Der Trainer
Joachim Löw war gehörig unter Beschuss in den letzten Tagen - und das wird sich zumindest bis zum nächsten Länderspiel-Dreierschlag im November auch kaum ändern. Löw moniert die vielen Spiele und den schwierigen Umgang damit und hat recht damit.
Auf der anderen Seite könnte er diese Partien aber auch als Chance begreifen, Reputation zurückzugewinnen. Der DFB zeigt sich weiterhin sehr geduldig mit Löw und der Mannschaft, kaum ein Bundesligatrainer würde sich über derart viel Nachsicht freuen können.
Trotzdem reagierte Löw zwischen den Spielen und speziell nach seinem mehrminütigen Monolog im Rahmen des Ukraine-Spiels immer wieder gereizt. Als "dünnhäutig und selbstgerecht" empfand das sogar der "kicker". "Mir ist völlig egal, wer was wie sagt", ließ Löw die Welt wissen, er stehe über den Dingen, was die Kritik angehe.
Es gab mal eine Zeit, da waren die Fans mit selbstbewussten Aussagen wie diesen einverstanden, weil die Leistung stimmte und Löw unantastbar war. Diese Zeiten, dieses Renommee, muss sich der Bundestrainer aber erst wieder erarbeiten. Er bleibt weiter unter Beobachtung.
Die Hierarchie
Flache Strukturen sind seit rund zehn Jahren angesagt bei der DFB-Elf. Der Bundestrainer hat es immer wieder sehr gut geschafft, die Hygiene im Team hochzuhalten und über die Jahre eine gute Mischung zu schaffen. Im Sinne der dringenden Neuausrichtung nach dem WM-Debakel wollte Löw auf Altbewährtes zurückgreifen und einen klaren Schnitt machen.
Das ging wie zuvor schon bei anderen verdienten Spielern - Torsten Frings, Michael Ballack - nicht geräuschlos über die Bühne, die Ausbootung von Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng wirkt aber bis heute nach. Und: Der gewünschte Effekt, dass sich im entstandenen Vakuum neue Führungsspieler entwickeln und die Mannschaft sich von innen heraus neu ausrichtet, ist noch lange nicht abgeschlossen.
Darunter leidet auch die Kommunikation auf dem Platz, eine wesentliche Essenz erfolgreicher Mannschaften. Es reicht nicht, wenn drei oder vier Spieler lautstark vorangehen. Jeder muss den nächsten coachen, es muss geredet werden auf dem Platz.
Der Ausblick
Die Nations League mag keinen besonderen sportlichen Stellenwert haben. Vom Abschneiden der deutschen Mannschaft in diesem Wettbewerb hängt aber in diesem sehr speziellen Jahr 2020 doch einiges ab.
Mit einem schlechten Ergebnis ins designierte EM-Jahr zu gehen, wäre ein erheblicher Ballast. "Diese Mannschaft hat echt Potenzial. Wenn wir da noch ein paar Dinge verbessern, dann können wir uns echt freuen", sagt Löw und beschreibt damit Hoffnung und Verpflichtung zugleich.
Seine Mannschaft bringt tatsächlich eine gewisse Leistungsstärke mit, es fehlen aber die Ergebnisse und damit auch jene Selbstverständlichkeit, die man von einer deutschen Nationalmannschaft erwarten muss. "Ergebnisse sind der Klebstoff für das große Ganze", sagt Löw nach dem Ukraine-Spiel. Dafür sind die Spieler, aber auch er selbst verantwortlich. Löw sollte demnächst mehr Ordnung schaffen in einer Mannschaft, die sichtlich angeleitet werden will und muss. Die Zeit wird nämlich langsam knapp.
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