Eine "offene Kategorie" beim Schwimm-Weltcup soll trans Athletinnen und Athleten einen Start ermöglichen. Doch diese Einführung sorgt für Diskussionen und Kritik. Ist das der richtige Schritt? Oder ein Fehler? Wir haben mit zwei Experten gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Oft ist es nötig, einen zweiten Blick auf Entscheidungen zu werfen. Denn der erste Eindruck kann täuschen. Gewaltig sogar. Oberflächlich betrachtet, ist die Schaffung einer sogenannten "offenen Kategorie" für trans Athletinnen und Athleten durch den Schwimm-Weltverband World Aquatics beim Weltcup in Berlin (6.-8. Oktober) eine runde Sache. Von einem "bahnbrechenden Pilotprojekt" sprach dann auch der Weltverband, von einem "unerschütterlichen Engagement der Organisation für Inklusion".

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Beim Deutschen Schwimm-Verband sei man stolz auf die Ausrichtung, und dann auch noch in Berlin, als "Drehscheibe für Vielfalt und Inklusion" und damit als "perfekter Ort für ein solch fortschrittliches Projekt". Doch ist das tatsächlich so?

Die Reaktionen sind eindeutig, der Lesben- und Schwulenverband LSVD kritisierte die Einführung dieser Kategorie in einer ersten Reaktion als Rückschritt. Grundsätzlich könne man es begrüßen, dass man sich mit der Thematik auseinandersetze, dass man sich bemühe und die Mehrgeschlechtlichkeit anerkenne, sagt Christian Rudolph vom Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wir wissen, dass das eine Herausforderung für den Sport ist, der bisher komplett binär organisiert war. Deshalb ist das ein erster Schritt. Aber das kann nicht die Lösung sein", so Rudolph.

Ein Schritt zur Seite, der die Sache nicht voranbringt

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) legt in den eigenen Transgender Guidelines den Gedanken fest, dass eine Beteiligung für alle möglich gemacht werden soll, mit der Empfehlung des Starts der trans Frauen und Männer in den Männer- und Frauen-Kategorien. Die konkrete Umsetzung obliegt aber den einzelnen Verbänden. Nachdem trans Schwimmerinnen im Vorjahr von den Frauen-Rennen bei Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ausgeschlossen wurden, hatte sich der Verband zur Schaffung der dritten Kategorie verpflichtet.

Das sei "gewissermaßen ein Fortschritt", sagt Sportsoziologin Petra Tzschoppe von der Uni Leipzig im Gespräch mit unserer Redaktion, "aber meiner Einschätzung nach ist es für die betroffenen Aktiven nicht wirklich der Schritt in die richtige Richtung. Eher ein Schritt zur Seite, der die Sache nicht voranbringt".

Der Knackpunkt für die Diskussionen ist die Frage nach der Chancengleichheit, die Kritiker durch die Teilnahme von trans Frauen neben der Integrität des Frauensports gefährdet sehen. Haben sie möglicherweise tatsächlich einen Wettbewerbsvorteil, wenn sie beispielsweise die männliche Pubertät durchlaufen haben?

So sind zum Beispiel durch den Weltverband Ausnahmen für die Teilnahme festgelegt worden, wenn die Geschlechtsanpassung bereits vor dem zwölften Lebensjahr vollzogen wurde. Doch hält diese angebliche Chancenungleichheit überhaupt einem zweiten Blick stand?

Wackelige Frage nach der Chancengleichheit

"Die Frage der Chancengleichheit, die elementar für den Wettkampfsport ist, ist an vielen Stellen wackelig", sagt Tzschoppe, die das als Pseudo-Begründung anführt. So hat sich auch niemand über körperliche Vorteile von Schwimm-Legende Michael Phelps aufgeregt. Auch eine bessere Infrastruktur kann im Training Vorteile mit sich bringen, die sich im Wettbewerb auszahlen. Diskussionen darüber gibt es aber auch keine. "Die Personen haben dann Vorteile, werden aber trotzdem nicht in eine Extra-Kategorie eingeordnet. Wir haben so viele Einflussfaktoren, die die Leistung im Schwimmen oder auch in anderen Sportarten letzten Endes determinieren", betont Tzschoppe.

Der LSVD, der sich im ständigen Austausch mit dem Bundesverband Trans und der Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) befindet, sieht ganz grundsätzlich nicht die Notwendigkeit für diese Kategorie. "Wir haben weder in der Spitze noch in der Breite die Athleten, die Wettkämpfe dominieren. Da wird jetzt per se davon ausgegangen, dass da ein Vorteil besteht. Deswegen finden wir das diskriminierend", sagt Rudolph.

Offene Kategorie führt zu Zwangs-Outings

Der LSVD findet die offene Kategorie zudem "diskriminierend, auch weil es um Zwangs-Outings geht. Das sind auch die Rückmeldungen, die wir von SportlerInnen bekommen. Es geht ja auch um eine psychische Belastung", so Rudolph.

Was er meint: Die betroffenen Menschen wissen schon sehr genau und sehr früh, dass sie sich mit ihrem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, nicht identifizieren können und sich damit auch nicht wohlfühlen. Das heißt, sie haben oft sowieso schon eine immense psychische Belastung auszuhalten. "Weshalb viele schon sehr früh mit dem Sport aufhören", weiß Rudolph. "Und wenn wir die gesellschaftliche Diskussion jetzt gerade sehen, dann ist die ja sehr überhöht, sehr überspitzt, sehr fremdbestimmt." Was das Ganze noch vielschichtiger und komplizierter für die Betroffenen macht.

Klassifizierung als irgendwie doch nicht zugehörig

Und auch Tzschoppe stellt die Frage, was es für die Betroffenen bedeute, "in einer Extra-Kategorie an den Start gebracht zu werden. Der Nachteil, "als irgendwie doch nicht zugehörig klassifiziert zu werden, überwiegt den Vorteil, starten zu dürfen". Von Inklusion würde sie daher nicht sprechen. In dem Zusammenhang stellt sich stattdessen die Frage, wie die Zusammensetzung der Entscheidungsgremien aussieht.

"Es sollte generell das Prinzip sein, dass da nicht irgendeine Verbandsführung sitzt, die noch ein paar Mediziner heranzieht, sondern dass die Betroffenen auch mitentscheiden."

Petra Tzschoppe, Sportsoziologin

Wird die Gruppe der trans Athletinnen und Athleten überhaupt vertreten? Und werden die betroffenen Sportler mit in die Entscheidungsprozesse mit einbezogen? "Es sollte generell das Prinzip sein, dass da nicht irgendeine Verbandsführung sitzt, die noch ein paar Mediziner heranzieht, sondern dass die Betroffenen auch mitentscheiden", fordert Tzschoppe.

Wie sieht die ideale Lösung aus?

Was wäre die ideale Lösung? "Das ist nicht so leicht zu beantworten“, weiß Tzschoppe. Transgender-Diskussionen befinden sich in der Gesellschaft in gewisser Weise noch in den Anfängen, im Sport erst recht. Mittlerweile hat sich in vielen Ländern zumindest das Verständnis dafür weiterentwickelt, dass es nicht nur ein binäres System gibt. "Damit ist der Sport auch gefordert, sein binäres Wettkampfsystem auf den Prüfstand zu stellen", sagt Tzschoppe.

"Wenn wir wissen, dass diese Menschen in der Gesellschaft oft ausgeschlossen werden, sollte zumindest der Sport für alle sein."

Christian Rudolph, Mitglied des LSVD

Rudolph hofft auf die verbindende Funktion, die sich der Sport oft und gerne selbst zuschreibt. "Wenn wir wissen, dass diese Menschen in der Gesellschaft oft ausgeschlossen werden, sollte zumindest der Sport für alle sein. Und wenn im Spitzensport so thematisiert wird, dann diskriminieren wir eben auch Menschen im Amateursport. Dabei braucht es gerade im Sport mehr Mut und auch mehr Willen", sagt Rudolph.

Einige Verbände beweisen den Mut nicht, sie führen komplette Verbote ein, wie der Rugby-Weltverband, der trans Frauen eine Beteiligung wegen gesundheitlicher Risiken untersagt. Der Leichtathletik-Weltverband schließt trans Frauen von internationalen Frauenwettbewerben aus. Um Vorteile durch natürlich hohe Testosteronwerte zu verhindern, müssen trans Sportlerinnen in anderen Sportarten zudem ihre Testosteronproduktion unter einen bestimmten Wert drücken, um überhaupt startberechtigt zu sein.

"Es braucht noch mehr Studien, es braucht belastbares, auch auf einer größeren Datenbasis erhobenes, empirisches Material, um eventuell genauere Abgrenzungen vornehmen zu können", sagt Tzschoppe, die auf den Fall der hyperandrogenen Athletin Caster Semenya aus Südafrika verweist. Da war der Leichtathletik-Weltverband böse auf die Nase gefallen, weil er 2017 eine Studie als Grundlage für ein Startverbot herangezogen hatte, die erhöhte Testosteronwerte ursächlich als leistungssteigernd beschrieb. 2021 wurde die Studie korrigiert. Hyperandrogene Athletinnen haben demnach nicht zwingend Leistungsvorteile.

Kein Ausschluss aus den regulären Wettkampfkategorien

"Solange diese scheinbaren Wettbewerbsvorteile nicht belegt sind, sollte kein Ausschluss aus den regulären Wettkampfkategorien erfolgen", sagt Tzschoppe. Heißt: "Solange es dieses binäre System im Wettkampfsport gibt, sollten auch alle in den Kategorien, mit denen sie sich identifizieren, eine Startberechtigung erhalten." Verweise auf die Diskussion um die US-Amerikanerin Lia Thomas, die bis 2019 als Mann schwamm und nach einer Hormontherapie im März 2022 als erste trans Schwimmerin einen Titel bei College-Meisterschaften gewann, hält Tzschoppe für nicht hilfreich. "Sie hat dort im Universitätsbereich Wettbewerbe gewonnen, aber deswegen dominiert sie noch nicht die Weltspitze. Das kann man aushalten, dann ist das eben so", sagt die Expertin.

In der Transgender-Diskussion hätten auch die Medien einen Anteil daran, wenn Themen aufgebauscht würden, so Tzschoppe. Und dann gibt es noch "diese wilden Vermutungen, dass sich Menschen auf den Transitionsprozess begeben, damit sie in der Kategorie Frauen sportliche Vorteile hätten, um Erfolge zu feiern. Wenn man sich vor Augen führt, was für ein langwieriger und grundlegender Veränderungsprozess das ist, den Menschen gehen - das halte ich für sehr weit hergeholt", sagt Tzschoppe.

Was aber real ist: Die Angst vor dem Zwangs-Outing, das bei einer Teilnahme an der Sonderkategorie zwangsläufig passieren würde. Gerade im Hinblick auf die Schwimm-WM 2024 in Katar wäre das doppelt verheerend. Im Grunde ist es nahezu unvorstellbar, dass Wettkämpfe in dieser offenen Kategorie in Ländern stattfinden, "wo das dritte Geschlecht noch nicht mal anerkannt ist, beziehungsweise eine Kategorie darstellt, für die man diskriminiert und angefeindet wird und wo man tatsächlich mit unmittelbaren Nachteilen rechnen muss", sagt Tzschoppe. Davon abgesehen, wäre es für Athletinnen und Athleten aus diesen Ländern generell bereits ein Risiko, international in der Transgender-Kategorie zu starten. "Das macht es doppelt kompliziert", so Tzschoppe.

Wie viele Sportlerinnen und Sportler werden sich anmelden?

Eine letzte Frage, die nun unmittelbar bleibt: Wie wird die neue Möglichkeit von den Teilnehmenden angenommen? Die offene Kategorie wird mit 50- und 100-Meter-Rennen in allen Schwimmarten eingeführt, die Meldefrist endet am 30. September, zu Zahlen äußert sich vorab niemand. Doch kommende Woche wird feststehen, wie viele an den Start gehen werden. So oder so ist schon jetzt klar: Es wird nötig sein, einen zweiten Blick auf die Entscheidung zu werfen.

Zu den Personen:

  • Christian Rudolph ist Mitglied des Bundesvorstandes des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD). Daneben arbeitet er in der 2021 vom DFB eingerichteten zentralen Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt.
  • Dr. Petra Tzschoppe: Die Sportsoziologin ist an der Uni Leipzig seit der Gründung 1993 an der Sportwissenschaftlichen Fakultät in Lehre und Forschung vorrangig in Sportsoziologie und Sportgeschichte tätig. Bis 2021 war sie zudem Vizepräsidentin Frauen und Gleichstellung beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB).

Verwendete Quellen:

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

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