Trotz eines kleinen Dämpfers in Innsbruck hat Karl Geiger bei der Vierschanzentournee noch immer die Chance auf den ersten deutschen Triumph seit Sven Hannawald 2002. Unsere Redaktion sprach mit dem viermaligen Gesamtsieger Jens Weißflog über die Stärken des Allgäuers – und die hohe Belastung durch Verpflichtungen neben der Schanze.
Dawid Kubacki? Marius Lindvik? Karl Geiger? Oder Ryoyu Kobayashi? Wer gewinnt die 68. Vierschanzentournee? Das ist vor dem vierten und entscheidenden Springen an diesem Montag im österreichischen Bischofshofen die Frage.
Einer, der weiß, wie es geht, ist Jens Weißflog. Viermal (1984, 1985, 1991 und 1996) sicherte sich der heute 55-Jährige den Klassiker. Dreimal gewann der Sachse auch das Springen in Bischofshofen.
Ein Interview über die richtige Technik in luftiger Höhe. Und eine völlig neue Generation Skispringer.
Herr Weißflog, mit Karl Geiger springt wieder ein Deutscher um den Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee. War es zwangsläufig oder überraschend, dass er jetzt den Durchbruch schafft?
Jens Weißflog: Zwangsläufig ist im Skispringen nichts. Die letzten Jahre haben gezeigt: Wer nur einmal Pech mit dem Wind hat, für den kann der Traum von der Gesamtwertung schnell vorbei sein.
Der Wind wirkt sich stärker aus als noch zu Ihrer Zeit?
Wie muss der Laie sich das vorstellen?
Es geht um die Aerodynamik. Diese ist sehr ausgeprägt, wenn die Springer in der Luft sind, weil das Material stark verfeinert wurde. Der Wind greift sofort.
Geiger hatte in Oberstdorf und Garmisch ein gutes Gefühl für den Wind. Wie erklären Sie sich seine Leistungsexplosion?
Er wirkte nach außen immer so, als käme er nur langsam in die Gänge, als ob ihn alles nicht so juckt (lacht). Im Probedurchgang konnte er einen Mist zusammenspringen und dann ist er im Wettkampf plötzlich explodiert. Im Skispringen brauchen manche einfach ihre Zeit.
Was ist dagegen seine Stärke? Kobayashi gilt zum Beispiel als herausragender Skiflieger.
Sie haben zwei wirklich unterschiedliche Sprungtechniken. Kobayashi geht mit einem sogenannten "flachen Ski" vom Schanzentisch raus, trotzdem mit idealem Einstellwinkel. Geiger wählt nach dem Schanzentisch einen steil angestellten Ski und dreht den Sprung erst dann in die richtige Richtung, innerhalb kürzester Zeit.
Der hoch angewinkelte Ski sorgt erstmal für ordentlich Widerstand, Geiger kann das aber innerhalb von zwei, drei Flugmetern ausgleichen. Nicht einzig eine Technik führt zu einer großen Weite.
Geiger hat gesagt, dass Kobayashi in seinem "eigenen Stockwerk" springe.
Beide hängen voneinander ab. Auch Kobayashi muss auf Fehler von Geiger hoffen, er ist nicht unfehlbar. Sowohl in Oberstdorf als auch in Garmisch war einer der beiden Sprünge nicht optimal. Erst im zweiten Sprung hat er jeweils das Ergebnis gerettet. Zudem steht er als Titelverteidiger vielmehr unter Druck als noch in der Vorsaison.
Kobayashi bricht mit japanischen Traditionen
Über Kobayashi wird auch gesagt, dass ihm der unbedingte Wille fehle und er lieber dem luxuriösen Jetset fröne. Über Neujahr war er in der kurzen Pause der Vierschanzentournee sogleich in Paris.
Als Sportler habe ich noch das alte Japan erlebt. Später kam ich als Fernseh-Experte dorthin und als ich versucht habe, das Erzgebirge für den japanischen Markt interessant zu machen. Japaner sind eigentlich von Grund auf solide (schmunzelt). Kobayashi symbolisiert aber den neuen Typ Japaner.
Die jungen Menschen entfernen sich von der traditionellen und bodenständigen Lebensweise. Das sieht man in den sogenannten In-Vierteln, wie die jungen Leute dort auftreten und wie sie gekleidet sind. Kobayashi steht dafür.
Bei der Vierschanzentournee müssen sich die Fans dagegen alle paar Jahre auf neue Siegspringer einstellen. Frühere Favoriten spielen keine Rolle mehr. Warum? Weil drei, vier Kilogramm den Unterschied ausmachen?
Das ist selbst für Experten nicht erklärbar. War ein Skispringer im Vorjahr noch weit abgeschlagen, springt er plötzlich vorne mit. Das zeigt eben: Kleinste Veränderungen am Material oder in der Technik des Springens haben oft große Auswirkungen.
Zwei, drei Grad mehr Einstellwinkel am Ski, zwei, drei Grad mehr Vorlage am Oberkörper machen die Unterschiede aus. Das ist für den Laien nicht ersichtlich. Selbst mancher Springer denkt sich: "Ich mache gar nicht so viel anders, aber plötzlich springe ich viel weiter."
Thema mentale Belastbarkeit: Österreicher wie Ex-Tournee-Sieger Thomas Diethart oder der Schweizer Simon Ammann hatten nach Top-Jahren schwere Stürze auf der Schanze. Wird die Angst unterschätzt?
Das ist natürlich eine Belastung. Aber nicht nur das. Skispringer müssen heute in den sozialen Medien präsent sein, sie chatten online mit irgendwelchen Skisprung-Fans, um Rede und Antwort zu stehen.
Außerhalb der Schanze sind viele Dinge dazugekommen, sodass sie gar nicht mehr die Zeit haben, sich zwischen den Springen zu erholen. Sie müssen sich immer wieder auf jemand neues einstellen oder sie müssen, um populär zu bleiben, bei Social Media posten, was sie gerade machen.
Das trägt dazu bei, dass die Springer permanent angespannt sind. So sind Erholungsphasen kaum noch gegeben. Sie sind fast schon dazu gezwungen, das mitzumachen.
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