Was für eine schöne, neue Welt, in der wir leben, oder? Eine Welt, in der Argumente von Buzzwords abgelöst wurden – und Relevanz von Reichweite. Eine Entwicklung, die sich auf so gut wie alle Bereiche des Lebens unangenehm auswirkt. Besonders verheerend jedoch sind die Spätfolgen dieser Diskurs-Reform, an der insbesondere der Triumphzug des Internets nicht unbeteiligt ist, für den klassischen, seriösen Journalismus.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die meisten Medienhäuser und Redaktionen wurden von der hereinbrechenden Digital-Content-Sturmflut augenscheinlich ähnlich kalt erwischt, wie die Deutsche Bahn von Schnee im Winter. Anders ist nicht zu erklären, warum die Edelfeder-Branche ähnlich innovativ auf Blogs, Social Media und Content Creators reagierte, wie die Musikbranche auf Downloads und Streaming.

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Während sich also eine Vielzahl etablierter Journalisten (plus eine stattliche Anzahl derer, die sich für solche halten) noch fragen, warum irgendwelche 21-jährigen Mädchen aus der Provinz, nicht selten mit einem Bildungshorizont analog zu einer Europalette Paniermehl, plötzlich siebenstellige Follower-Zahlen aufweisen – man selbst jedoch nur einige Tausend, haben Influencer, die aus dem Nichts kamen, bereits deutlich mehr Einfluss auf die relevanten Zielgruppen als Journalisten. Gleichzeitig haben sich Troll-Farmen mit KI-gesteuerten Bots im Netz die Diskurshoheit erpöbelt. Quo vadis also, Journalismus?

Diese Logik ist ziemlich Dürr

Es ist aber auch ein Teufelskreis für ehemals stimmungs-manifestierende Ex-Meinungsführer. Da sitzt man gerade noch gemütlich in der Redaktionskonferenz beisammen, lässt sich wortreich vom latent hyperventilierenden Chefredakteur zusammenfalten, weil wieder irgendein Wichtigtuer aus den eigenen Reihen diskreditierende Interna an politische Boulevardmagazine durchgestochen hat, da taucht schon wieder einer dieser unsäglichen Influencer auf Instagram auf, die vor zwei Jahren noch für 8,50 Euro die Stunde in einem Coffee-Shop in einem Einkaufszentrum im Industriegebiet irgendeiner vom Innovations-Aufbruch ignorierten Kleinstadt Latte Macchiato an Funktionsjacken tragende Großfamilien verkauft haben, und schwört heute ihre siebenstellige Community auf diese Terrorgruppe Fridays For Future um Klima-Barbie Luisa Neubauer ein.

Als wäre es nicht schon schwer genug, irgendwie akzeptieren zu müssen, dass inzwischen jeder Tweet dieser verhassten Sinnfluencer zehntausendmal mehr Menschen erreicht als die letzten zwölf "Die wollen uns alles verbieten"-Mimimi-Leitartikel der gesamten Chefreporter-Fraktion zusammen, muss man jetzt auch noch dabei zusehen, wie sich eine neue Generation nicht mehr mit Beschwichtigungen und Diffamierungen abspeisen lässt, was elementare Themen angeht.

Da kommt sogar ein FDP-Schwergewicht wie Christian Dürr nicht mehr einfach so durch, wenn er stolz seine neueste intellektuelle Arschbombe präsentiert: "Mehr Straßen sind gut für den Klimaschutz, weil es dann weniger Staus gibt". Nach der Logik müsste man einfach nur doppelt so oft Essen gehen, um abzunehmen.

Schwer zu glauben, dass diese Aussage vom Fraktionschef der FDP kommt – und nicht von einem Generalexperten wie Attila Hildmann. Und da habe ich Dürrs Ausflug in die Asylpolitik noch gar nicht eingepreist, bei der er auf folgende geniale Idee kam: Finanzielle Unterstützung für Klimaschutz sollte an die Menge der zurückgeführten Asylbewerber gekoppelt werden.

Bis vor einigen Jahren konnten Dürrs Kollegen wie die rückwärtsgerichteten Lobby-Vordenker Friedrich Merz ("Greta ist krank") oder Christian Lindner ("Klimaschutz sollte man den Profis überlassen") jeglichen Protest noch mit ihrer Kernkompetenz in Schach halten: Der Symbiose aus legitimationsloser Überheblichkeit und faktenresistentem Oberlehrer-Habitus.

Am Steuer des ICE "Alte Weiße Männer" auf dem Weg zu seiner Endstation: Dem Diskursverschiebebahnhof "Rechtsbubble". Dass sich inzwischen auch vermeintlich liberale Politiker auf die Wählerstimmenfang-Olympiade am rechten Ufer einlassen, ist einer der Effekte, die diese veränderte Medienlandschaft eben mit sich bringt. Dort kämpft man an der Front der Informationskrieger mit bescheidenen Bordmitteln gegen den Verlust der Präeminenz im Fachbereich Meinungsvorreiter an.

Man verschiebt die Betrachtungslinie, die sich als Leitfaden durch die Redaktionen zieht, wie die neue A100 durch Berlin, sukzessive weiter nach rechts. Wer Gefallen darin findet, aktiv an der Deformation des Freiheitsbegriffs mitzuwirken, springt als Trittbrettfahrer auf. Rauf auf diesen mit Vollgas auf einen Sackbahnhof zurasenden Regionalexpress, der noch immer glaubt, ein Transrapid zu sein.

Mein rechter, rechter Platz ist frei

Man muss kein ideologie-tektonisches Genie sein, um zu bemerken: Von da, wo man jetzt steht, sind Themen und Feindbilder mit den in der Leserschaft verbliebenen Querdenker- und Rechtsauslegern nahezu deckungsgleich. Sich von AfD-Standpunkten nicht mehr spürbar zu unterscheiden, hat Vorteile: Man kann ohne argumentatorischen Konstruktionsaufwand behaupten, selbst die CDU wäre links.

Da wird ein als Antisemit und Rassist verschriener Hans-Georg Maaßen schnell mal zum Che Guevara der urkonservativen Vernunft stilisiert. Oder eine Postfaschistin wie Giorgia Meloni zur Hoffnung für Europa. Von so weit rechts wirkt selbst Christoph Ploß mitunter linksradikal.

Julian Nagelsmann äußert sich zu Manuel Neuer: "Ich hätte das Interview nicht gemacht"

Erster Liga-Sieg in 2023 - und doch geht es (fast) nur um ein Thema: Manuel Neuer steht nach seinem Rundumschlag gegen den FC Bayern stark in der Kritik. Auch Trainer Julian Nagelsmann die Aussagen seines Kapitäns nicht so recht nachvollziehen. Er "hätte das Interview nicht gemacht", meinte Nagelsmann nach dem 4:2 (3:1)-Sieg in Wolfsburg. Über die Kapitänsfrage im Sommer mache sich der Coach hingegen aktuell noch keine Gedanken. (Bild: picture alliance/Guido Kirchner/David Inderlied)

Es scheint, als hätte man in der Abenddämmerung des eigenen Bedeutungsverlustes inzwischen auch die letzten Funken Anstand und Verantwortung über die Clickbait-Reling geworfen. So dauert es vermutlich nicht mehr lange, bis aus dem einstmals liberal-bürgerlichen Feuilleton ein Koalitionsbündnis aus Union und AfD beschworen wird – und Bernd Höcke als missverstandenes politisches Genie. Und die Schuld daran wird dann Robert Habeck gegeben und natürlich Annalena Baerbock.

Wenn man den pathologischen Rechtsdrall besagter Verlage, Redaktionen und Journalisten der vergangenen drei Jahre betrachtet, ist das der einzig logische, unvermeidbare nächste Schritt. Die eindimensional plump denkende Restleserschaft ist wütend – und sie will gefüttert werden. Wasser wird da nicht reichen auf die Mühlen des neuen Empörungs-Proletariats. Da müssen schon härtere, klar antidemokratische Positionen kommen, um die geistigen Thor Steinar Vasallen bei der Abo-Stange zu halten. "Steuern sind Raub" vielleicht, oder "Klimaaktivisten sind die neue RAF". Die Mutter der Dummheit ist immer schwanger. Und die Lieferkette für den Provokations-Bauchladen ist immer intakt.

Kompromisse: Impossible

Eine Weile hatte man in den Redaktionen noch versucht, durch meinungsoffene Pluralität in eine Art journalistisches Potpourri zu schaffen, in dem jeder etwas für sich finden könne. Die Hoffnung, es würden sich dann neue Zielgruppen erschließen lassen, zerschlug sich schnell. Ein Blick in die Kommentarspalten reichte zumeist, um recht schnell festzustellen: Ausbalancierte Berichterstattung bringt wenig neue Leser, dafür beginnen alte zu randalieren.

Oftmals sehr nah an der Beleidigung gebaute Berufskommentatoren zeigen sich uneinsichtig und reagieren mit dem für ihre intellektuellen Möglichkeiten einzig nachvollziehbaren Schachzug: Sie radikalisierten sich deutlich rechts von der Mitte, deutlich rechts von der Vernunft und sogar deutlich rechts von der CDU und ihren Begleitmedien, bei denen man plötzlich einen nicht tolerierbaren Hang zur Woke-Assimilation identifiziert hatte.

So manifestierte sich in besagten Redaktionsstuben die Gewissheit: Fakten begeistern eine Klientel, die dem aktuellen Spitzenpersonal auf den Chefreporterposten zujubelt, deutlich weniger als Grünen-Bashing und Klimawandelverharmlosung. Das Projekt, unterschiedlichen Meinungen Platz zu geben und mündigen Lesern die Entscheidung zu überlassen, welcher These sie mehr folgen, war gescheitert.

Das führte zu zwei Reaktionen. Zum einen ließ man die letzten Masken fallen: Keine Ressourcen sollten mehr darauf verschwendet werden, irgendwie das Bild einer vernunftbasierten, aus der Mitte der Gesellschaft denkenden Redaktion zu bewahren. Zum anderen bemühte man sich darum, alle durch ihren Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder Hang zu Verschwörungstheorien anderswo in Ungnade gefallenen Autoren unter dem eigenen Dach zu subsumieren. Ein Cancel-Culture-Elitekader für all die Dinge, die man in der linksgrünen Diktatur schon lange nicht mehr sagen darf. Also, außer in seinen Kolumnen, ellenlangen Interviews, Talkshows, Podiumsdiskussionen und Programmen von Dieter Nuhr.

Der will doch Nuhr rechts abbiegen

Eine Korrektur der Redaktionsphilosophie, die verständlich ist. In der heutigen Zeit erwarten Leser andere Qualitätsmerkmale als noch vor 20 Jahren. Viele möchten nicht mehr dabei mitlesen, wie etwas kritisch hinterfragt wird. Ob sie mit ihrer Überzeugung, ihrem Hass oder ihrer Kritik richtig liegen – diese Frage stellt sich nicht mehr.

Man möchte Medien, die jeden Tag simpel formuliertes, wenig zu Ende gedachtes und die eigenen kruden Thesen und den eigenen latenten Hass maximal bestätigendes Propagandamaterial, mit dem man weiter ungestört eine Schneise der intellektuellen Verwahrlosung durch die Kommentar-Spalten der Sozialen Netzwerke schlagen kann. Likes sind wichtiger als Fakten.

So ist in der einschlägigen Ex-Mitte-Journaille plötzlich alles, was nicht AfD-nah ist, keine "Freiheit" mehr. Verbote lehnt man kategorisch ab – jedenfalls wenn es um Tempolimit, Gammelfleischverzehr oder Pauschalreisen im Billigflieger geht. Nicht ganz so stringent ist man derweil bei Verboten, die der neuen Stammleser-Klientel schmeicheln: Ein Gendern-Verbot beispielsweise. Da würde man durchaus eine Pause vom Verbots-Wahnsinn machen.

Oder auch "Die Letzte Generation". Da könnte man über sein Verbote-Verbot generös hinwegschauen. Manche empfinden diese Doppelmoral-Festspiele als scheinheilig, andere feiern es als längst notwendige Abkehr selbstdenkender Top-Journalisten vom regierungshörigen Mainstream. Aber wie auch immer man es nennt: Der Retardations-Prozess der kognitiven Unterkomplexität ist nicht mehr aufzuhalten. Tätowieren Sie sich also bitte keine Frau, die sich an die Schulter fasst. Bis kommende Woche!

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