Ich möchte mich bereits hier in der Einleitung entschuldigen. Ich trage natürlich keinerlei Schuld daran, aber auch diese Woche wird es hier wieder um Richard David Precht, den Tucker Carlson der Hobby-Philosophen gehen. Sorry, aber ich bin ja nur die unbedeutende Chronistin. Ich kann nichts dafür, dass jeder Verlag, jeder TV-Sender und jede Talkshow den blondiertesten "Wer wird Millionär"-Kandidaten aller Zeiten weiterhin als Wunschgast Nummer Eins auf die Whiteboards der Redaktionssitzungen führt.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Kurzer Kontext für alle, die sich im Precht-Meme-Game nicht so gut auskennen: Der Lieblingsphilosoph von Sahra Wagenknecht, Wolfgang Kubicki und Ulrike Guérot blickt auf eine beachtliche Vergangenheit als TV- und öffentlichkeits-besessener Show-Tourist zurück, die ihn sogar als Kandidat zu Günther Jauch brachte.

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Seither bekommt die mal mehr, mal weniger geneigte Öffentlichkeit landesweit immer häufiger das Gefühl, Teilzeit-Waffenexperte und Diplom-Entspannungspolitiker Precht ginge es letztendlich doch nur darum, so oft wie möglich im Fernsehen aufzutreten.

In der echten Philosophie-Bubble schon länger entzaubert, hat er sich im Windschatten des Ukraine-Krieges eine ganz neue Zielgruppe aufgebaut: Eher rechtsauslegende Voll-Patrioten, deren verquere Telegram-Logik Thesen wie die von Nena Schink zwar goutieren, denen "BILD TV" dann aber doch zu schmuddelig ist. Und durch quasi täglich umgestellte Sendezeiten auch zu kompliziert zu empfangen.

Da wirkt es intellektueller, die Kollegen in der Mittagspause mit einem "das sieht Richard David Precht übrigens genauso" zu beeindrucken. Wer gibt schon gerne öffentlich zu, seine Weisheiten von Stammtisch-Kommentatoren wie Claus Strunz entliehen zu haben. Jetzt mal von anonymen Twitter-Accounts mit einem Vornamen und zahlreichen Nummern im Handle mal abgesehen.

Wer bin ich – und wenn ja, warum 3 nach 9?

Auf seiner "Einigkeit und Precht und Freiheit"-Tour 2022 macht der bei meinen Eltern als "was ist bei dem denn schiefgelaufen" bekannte Ex-Fast-Philosoph diese Woche in der "N3 Talkshow" Station. Von Haus aus eine Wohlfühl-Oase für mittelprominente Grüß-Augusts, die wahlweise einen neuen Film, ein neues Buch oder eine neue Scheidung dabeihaben. Im Prinzip ein Podcast, bei dem mitgefilmt wird. Alle sitzen im Kreis, jeder bekommt 20 Minuten Zeit, um dem Moderations-Duo möglichst interessante Antworten auf möglichst triviale Fragen zu geben – und hinterher stellen alle fest, dass das ein ganz, ganz besonders interessantes Gespräch war.

Diese Woche boarden im Schwafel-Flaggschiff neben Bestseller-Autor Precht auf seiner Reise vom Allrounder zum Alu-Hut weitere Perlen der Hochphilosophie: Sänger Gregor Meyle ("seine Stimme gibt auch in unfreundlichen Zeiten Hoffnung"), Kunsthistorikerin Andrea Wulf ("mit ihren Worten erweckt sie Geschichten zum Leben"), Schauspielerin Margarita Broich ("hat erst mit 60 geheiratet!"), Haya und Nuriel Molcho ("lieben den Duft von Essen"), Max Raabe ("bringt die 20er Jahre zum Klingen") und Janine Ullmann ("Balletttänzerin und Moderatorin"). Ein dankbares Publikum für das perfideste Diskurs-Verschiebungs-Manöver der jüngeren TV-Geschichte.

Der zuletzt von Robin Alexander und Melanie Amann in einer legendären Folge "Markus Lanz" spektakulär demontierte Co-Autor des Buches "Die Vierte Gewalt" präsentiert der staunenden Runde einen ganz neuen, sehr progressiven Ansatz, mit Kritik umzugehen. Precht hatte vor Wochenfrist in einem von Überheblichkeit aus allen Nähten platzenden Auftritt bei seinem Podcast-Buddy Lanz dem "Welt"-Journalisten Alexander brüsk zurechtgewiesen.

Alexander hatte Precht daran erinnert, es sei faktisch falsch zu behaupten, die Medien hätten bei ihrer Bewertung zum Thema Waffenlieferungen an die Ukraine flächendeckend einfach sofort das Narrativ der Regierung übernommen. Precht hatte pseudoechauffiert gekontert, diese Darstellung wäre inkorrekt, weil dieser Vorwurf ja gar nicht in seinem Buch stünde. Schon Minuten nach dieser Behauptung war das Netz, insbesondere Twitter, voll mit Screenshots eben jenes Buches, auf dem auf Seite 33 über die Deutschen Medien von einer: "konzertierten Übernahme des Regierungs-Narratives durch sämtliche Leitmedien" geschrieben wird. Alexander war bestätigt, Precht vorgeführt.

Was also war passiert? Richard David Precht kennt entweder den Inhalt seines eigenen, soeben erschienenen Buches nicht, oder er konstruiert sich seine eigene Realität, die stets spontan angeglichen werden kann, je nachdem, wie sie gerade optimal in seine Argumentations- oder Verteidigungsstrategie passt. Beides ist eines Autors, der wohl der am häufigsten in den Medien stattfindende TV-Philosoph ist, unwürdig. Statt sich nun aber mit den Vorwürfen zu beschäftigen, daraus zu lernen oder sich womöglich sogar bei Alexander und Amann dafür zu entschuldigen, wie gleichsam aggressiv und falsch seine Entgegnungen an jenem Abend gewesen sind, wählt Precht einen bizarren anderen Weg.

Wenn Dein Publikum zu kritisch ist – such dir ein anderes

Alternative Wege sind nicht zwangsläufig schlau, aber erlaubt und legitim. Alternative Fakten dagegen nicht. Precht jedoch entscheidet sich in Zeiten, in denen er sich plötzlich bei sensiblen Themen wie Corona oder Ukraine-Krieg erstmals in seinem Autorenleben echten Faktencheckern gegenübersieht, für Flucht statt Verteidigung. Ganz nach dem Motto: Wenn mein aktuelles Publikum mir meine Lügen nicht glaubt, suche ich mir ein neues.

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Statt sich Vorwürfen und Korrekturhinweisen zu stellen, tingelt man so lange weiter durch die Medien, bis man ein Umfeld findet, dem es entweder egal ist, trumpesk mit einer situationsbedingt modifizierten Wahrheit konfrontiert zu werden, oder dem die Mittel fehlen, um es überhaupt zu bemerken. Der verblüfften und in weiten Teilen schockierten Öffentlichkeit jedenfalls diktiert Precht am Freitagabend während der "NDR-Talkshow" folgenden, äußerst bemerkenswerten Satz in die Notizbücher: "Wenn Sie 'Servus TV' gucken, `Talk im Hangar`, da haben Sie zu solchen Fragen wie Waffenlieferungen komplett ausgewogene, aus allen Seiten beleuchtende, beratschlagende Talkshows. Das könnte ein Vorbild sein."

Den Satz muss man erstmal sacken lassen. Richard David Precht mit seinem ersten offiziellen eigenen "Very fine people on both sides"-Moment. In einer der beliebtesten Freitagabend-Talkshows empfiehlt ein selbsternannter Philosoph, der in den vergangenen Monaten in wirklich jedem TV- und Radiosender, jeder Zeitung und jedem Podcast erzählt hat, man dürfe kontroverse Dinge nicht mehr sagen, ein Schwurbel-Medium.

Eine Talkshow auf einem Sender, der vornehmlich Personen wie Martin Sellner (Sprecher der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreich sowie einflussreicher Impulsgeber der Neuen Rechten in Deutschland) oder Corona-Leugner Sucharit Bhakdi ein Forum gibt. Bhakdi fiel seit Beginn der Pandemie neben seiner skurrilen, pseudowissenschaftlichen Position zu Corona-Fragen auch mehrfach mit antisemitischen Aussagen auf. Bei Bhakdi gehören Formulierungen wie "Zweiter Holocaust" oder "Endziel" im Zusammenhang mit der Zulassung von COVID-19-Impfstoffen genauso zur Normalität, wie die Behauptung, allen Bürgern müsse klar sein, "dass hinter dieser ganzen Geschichte eine monströse, dämonische, satanische Agenda steht".

Schläft Richard David Precht in "Servus TV"-Bettwäsche?

Nur, damit das nicht untergeht: Richard David Precht empfiehlt Deutschen Fernsehsendern, sich in ihrer politischen Diskussion "Servus TV" als Vorbild zu nehmen. Ganz offen, nicht hinter vorgehaltener Hand. Coram publico im ÖRR. Wir dürfen also feststellen: Richard David Precht fühlt sich zwischen Sellner und Bhakdi inzwischen wohler als bei "Anne Will" oder "Markus Lanz".

Im weiten Rund der anderen Talkgäste, inklusive Moderatorin Bettina Tietjen, rührt sich zu Prechts Ausflug in die Schönheit von "Servus TV" übrigens keinerlei Gegenrede. Kein Protest. Keine Kritik. Keine Rückfragen. Kein Aufschrei. Keine Einordnung von "Servus TV". Die, naja, Köchin Haya nickt euphorisch, während Precht über die journalistische Ausgewogenheit von "Talk im Hangar" Hof hält. Am Ende säuselt sie sogar irgendwas davon, Precht solle stolz sein. Gerührt zwinkert ihr der Philosoph für Möchtegern-Akademiker, denen Mario Barth zu prollig ist, einige Male zu. Vielleicht hat er aber auch nur was im Auge. Janine Ullmann vielleicht, die als einzige einen Ansatz von Widerstand erkennen lässt, dann aber von Co-Moderator Johannes Wimmer schnell zur Tagesordnung gerufen wird: "Du warst ja dieses Jahr bei "Let´s Dance" dabei, wie war das für dich?"

Genau das Publikum also, das Richard David Precht liebt: Niederschwellig informiertes Buchkauf-Kanonenfutter, das nicht mal reagiert, wenn Richard David Precht sich darüber chauffiert, es gehe in den großen Leitmedien mittlerweile "wie bei Twitter" zu, wo man "Konflikte immer sofort personalisiert" und man vermehrt "Personen ins Abseits stellen will, anstatt über Themen zu diskutieren". Erneut eine weder präzise noch mit Evidenz unterlegte Vorwurfs-Behauptung, ausgerechnet von einem Mann, der zuletzt bei "Markus Lanz" die gut begründet vorgetragene Kritik der "Spiegel"-Journalistin Amann damit abkanzelte, sie hätte wohl nicht begriffen, worüber er spreche. Oder anders gesagt: Diese Frau hier neben mir ist zu doof für mein Buch. Man hätte sich Autorinnen wie Tijen Onaran in der Runde gewünscht, oder Journalisten wie Stephan Anpalagan, die Precht diese Hommage an einen Sender, der Rechtsradikale und Antisemiten hofiert, nicht hätten durchgehen lassen. Andererseits ist wohl ohnehin davon auszugehen, dass Precht sich in der aktuellen Gemengelage einem solchen Tribunal durch spontanes Nichterscheinen entzogen hätte.

Ich könnte diesen Wochenrückblick jetzt mit einem Füllhorn an Beispielen enden lassen, was für absurde Personen mit noch absurderen politischen Positionen sich seit Monaten beim von Precht als Benchmark für Deutschland deklarierten "Talk im Hangar" die Klinke in die Hand geben. Ich möchte aber nicht schon wieder einen Text mit richtig mieser Laune beenden. Daher hier etwas Versöhnliches: Richard David Precht ist weder Bundeskanzler noch Programmdirektor. Es gibt also noch Hoffnung auf vernünftigen Diskurs.

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