Neben der Frage nach Gewinnern und Verlieren interessierte am Eurovision Song Contest schon immer eine ganze andere Frage: Wie politisch ist der ESC? Vielleicht ist das Interesse an einer Antwort auf diese Frage deshalb so groß, weil der Eurovision Song Contest eigentlich eine unpolitische Veranstaltung ist – oder vielmehr sein sollte. Ob das so ist, darüber haben wir mit Lukas Heinser, Journalist und langjähriger Assistent des ESC-Kommentators Peter Urban, gesprochen.
Herr Heinser, der Song Contest wird seit 1956 von der European Broadcasting Union (EBU) veranstaltet. Wie politisch ist denn die Organisation selbst?
Lukas Heinser: Die EBU ist in den 1950er-Jahren ins Leben gerufen worden, um in Europa ein einheitliches technisches Verfahren zu haben. Es ging also erst mal darum, Fernsehübertragungen aus anderen Ländern zu ermöglichen. Berühmtestes Beispiel ist die Live-Übertragung der Krönung von Königin
Regeln machen das ESC-Erlebnis politisch
Wie kann die EBU überhaupt politisch Einfluss nehmen?
Die EBU hat Regeln für diesen Song Contest. Zum Beispiel, dass es keine Markennennung in den Songs geben darf, keine Schimpfwörter oder sexuelle Andeutungen — aber auch ganz banal, dass ein Song nicht länger als drei Minuten lang sein darf. Auf die Einhaltung dieser Regeln kann die EBU natürlich pochen und manchmal müssen Texte dann auch noch mal überarbeitet werden. Das deutlichste Beispiel, was die EBU kann, gab es vor zwei Jahren, als die EBU Russland bereits einen Tag nach dem Überfall auf die Ukraine vom Song Contest in Turin ausgeschlossen hat. Während vergleichbare Organisationen wie Fifa, IOC oder Uefa teils deutlich länger mit sich gerungen haben, war die EBU sehr schnell mit ihrer Entscheidung. Ich glaube, auch um den potenziellen russischen Act zu schützen. Denn so völkerverbindend das alles ist, es gibt auch Beispiele wie 2015, nach der Annektierung der Krim, wo der russische Act vom Publikum einfach ausgebuht wurde. Das fand ich etwas unfair, denn die Sängerin hatte natürlich nicht persönlich die Krim annektiert, aber sie war andererseits Vertreterin eines Rundfunks, der in Russland sehr staatsnah ist und insofern natürlich auch ein Stück weit Repräsentantin des russischen Systems.
Welche Regelverstöße gab es denn bereits?
Da gibt es einige Songs, deren Texte nicht zugelassen wurden. 2009 etwa zog Georgien seine Teilnahme am ESC in Moskau zurück, weil die EBU sein Lied "We Don’t Wanna Put In" beanstandet hatte. 2019, als der Song Contest in Tel Aviv stattfand, hat die isländische Band bei der Punktevergabe eine palästinensische Flagge in die Kamera gehalten, woraufhin der isländische Sender eine Strafe von 5.000 Euro zahlen musste.
Wie politisch ist denn die Atmosphäre beim Finale, auch mit Blick auf Konflikte oder Rivalitäten zwischen manchen Ländern?
Solche Konflikte gab es in der Geschichte des ESC schon oft, vor allem zwischen Armenien und Aserbaidschan oder im Bezug auf Zypern. Vor Ort unter den Fans ist es ganz rührend zu sehen, dass sie eben nicht ihre Länder oder ihre Regierungen sind, sondern sich untereinander gut verstehen. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass der Song Contest mehr für das "Gefühl Europa" getan hat, als es die Europäische Union mit irgendwelchen Vorschriften jemals könnte. Die Menschen begreifen diesen Kontinent vor allem deshalb als Einheit, weil es den ESC und den Uefa-Cup gibt. Die Stimmung am Finaltag würde ich mit der Stimmung des Pokalfinals in Berlin vergleichen. Die ganze Stadt ist voll mit Menschen, man merkt so ein Flimmern den ganzen Tag, ehe sich alles auf den Weg zum Veranstaltungsort macht. Selbst wenn man nicht wüsste, was los ist, würde man merken: Hier passiert etwas Besonderes. Allerdings werden beim Pokalfinale die gegnerischen Fans getrennt, das ist beim ESC natürlich nicht der Fall. Da laufen alle gemeinsam, das ist wirklich völkerverbindend. Aber wenn Zypern mal wieder Griechenland zwölf Punkte gegeben hat, wird auch schon mal gebuht, weil es so erwartbar ist.
Ähnlicher Musikgeschmack statt Block-Voting
Der Song Contest hat 1956 mit sieben Ländern begonnen. Was hat sich im Laufe der Jahre geändert, als immer mehr Länder aufgenommen wurden
Es gibt Theorien, dass der ESC auch gedacht war gegen den Ostblock auf der einen und die USA auf der anderen Seite, um zu sagen: Das hier ist europäische Kultur. Nach Ende des Kalten Kriegs kamen auch die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Pakts dazu, die natürlich auch zu Europa gehören. Weil es schnell zu viele Länder für einen einzelnen Abend waren, wurden die Halbfinals eingeführt. 2008 hat Russland gewonnen und hier hat Putin dem Westen zeigen wollen: Das ist die russische Kultur, wir sind die Größten, wir können den Song Contest ausrichten. Putin war 2009 in Moskau sogar Schirmherr.
Jedes Jahr gibt es den Vorwurf des Block-Votings, mitunter ja auch ein politisches Signal. Ist da überhaupt etwas dran?
Der Vorwurf ist zum einen etwas leiser geworden in den vergangenen Jahren, zum anderen hat dieses Phänomen weniger eine politische Dimension, sondern vielmehr mit der Überschneidung der Musikmärkte zu tun. In den skandinavischen Ländern, zwischen England und Irland oder zwischen Griechenland und Zypern gibt es eben jeweils den gleichen Musikmarkt. Wenn ein Act hier in einem Land groß ist, ist er oft auch im anderen Land groß. Bei den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist das noch einmal stärker und gerade hier muss man beim Vorwurf des Block-Votings bedenken: Diese Nationen haben gegeneinander Krieg geführt und es gibt teilweise heute noch erhebliche Spannungen. Da erwartet man jetzt erst einmal nicht, dass die sich gegenseitig die Punkte zuschieben. Aber sie haben eben einen ähnlichen Musikgeschmack und ähnliche Stars. Auf der anderen Seite ist dieses Phänomen für Deutschland ein Problem, weil es einer der größten Musikmärkte der Welt ist und sich selbst genügt. Wie viele deutsche Acts sind über die Grenzen Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und Luxemburgs hinaus bekannt? Im Heavy-Metal- oder Electro-Sektor vielleicht, aber die Sachen im Pop-Bereich hört schon in Holland kaum jemand.
Gleichzeitig wurde aber in Deutschland versucht, die Beiträge zu internationalisieren.
Beim Song Contest geht es darum, aufzufallen, denn das Publikum hört am Samstagabend 26 Songs hintereinander und da geht es dann darum, etwas Besonderes zu haben. Gleichzeitig sind Deutschland, Italien, das Vereinigte Königreich, Spanien und Frankreich als die größten Geldgeber sowie das Gastgeberland direkt für das Finale gesetzt. Die Songs dieser Länder waren bisher in den Halbfinals nur ausschnittsweise zu hören und konnten so vielleicht weniger Eindruck hinterlassen. Hinzu kommt: Bei der Abstimmung werden nur an zehn Länder Punkte vergeben. Wenn man in jedem Land beim Voting auf Platz elf kommt, steht man am Ende trotzdem mit null Punkten da. Das heißt dann nicht, dass niemand angerufen hat, sondern nur, dass es keine Punkte für die Anrufe gegeben hat.
Die politische Brisanz des Wettbewerbs 2024
Sie haben es bereits angesprochen: Deutschland ist, wie vier andere Länder, als einer der größten Geldgeber immer im Finale. Ist das gerecht?
Eine gute Frage, über die ja fast jedes Jahr diskutiert wird. Allerdings kann es auch ein Nachteil sein, immer automatisch im Finale zu stehen, weil das Publikum vielleicht eher für einen Song anruft, den es schon im Halbfinale gehört und für den es dort abgestimmt hat. Wenn man sich die letzten Jahre ansieht, gingen die letzten Plätze fast immer an Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Spanien. Italien ist die Ausnahme, das funktioniert irgendwie immer.
Was ist denn in diesem Jahr an politischer Brisanz drin? Etwa, wenn man an den Beitrag Israels denkt, der erst "October Rain" hieß, zweimal umbenannt werden musste und nun "Hurricane" heißt.
Es gab ja Forderungen mit offenen Briefen gegen verschiedene Acts, nicht teilzunehmen, weil Israel dabei ist — mit verschiedensten Begründungen. Es gab offene Briefe von Acts, die zu einem Waffenstillstand aufgerufen haben und gleichzeitig zur Freilassung der Geiseln, die also differenzierter auf diesen Konflikt geguckt haben. Aber weder die Veranstaltung selbst noch Social Media sind Orte, wo für Differenzierung Platz ist. Deshalb ist, glaube ich, ein Aufruf zu Frieden etwas, wohinter sich alle sammeln können. Ich glaube, gerade nach den Erfahrungen im Vorfeld, wo aus verschiedensten Richtungen verschiedene Interessen an die Acts herangetragen wurden, dass alle jetzt sehr vorsichtig sein werden und sich auf Allgemeinplätze zurückziehen – und das auch zu Recht. Dieser Konflikt ist komplex und wir sehen ja bei unseren Politikern und Politikerinnen, wie die um Worte ringen. Der Job von den Leuten, die zum ESC fahren, ist es, zu singen, zu tanzen und damit zu überzeugen. Für alles Weitere haben wir Außenpolitiker.
Das heißt, Sie erwarten keine besonderen Vorkommnisse?
Ich glaube, von den teilnehmenden Acts nicht. Man weiß aber natürlich nie. Die haben alle unterschiedliche Geschichten und kommen aus unterschiedlichen Subkulturen. Es ist nicht mehr wie vor 20 Jahren, als das alles Mainstream-Popacts waren. Ich denke aber, dass die Sendeanstalten der jeweiligen Länder sagen werden: "Wäre cool, wenn wir hier nicht noch ein zusätzliches Fass aufmachen." Ich erwarte von den allermeisten Acts keine großen Positionierungen. Alleine schon aus Kalkül, weil man ja aus ganz Europa Stimmen bekommen möchte. Deshalb wird im Vorfeld sicher mit sehr fein justierten Goldwaagen gearbeitet werden.
Kommen wir zur gesellschaftspolitischen Ebene: Sieht man sich die Auftritte und Bilder der Anfangsjahre an, war der ESC doch eine recht biedere Veranstaltung. Das hat sich gewandelt, inzwischen wird der ESC gerade von der queeren Community sehr gefeiert. Wie hat sich das entwickelt
Ich glaube, neu ist das gar nicht so sehr, man hat es nur nicht so genau wahrgenommen. Die Kodizes waren damals noch ganz andere. Aber 1961 gewann Luxemburg mit einem Liebeslied, von dem man sich heute relativ sicher ist, dass es von zwei Männern handelt. Wenn man Menschen fragt, die ihr Coming-Out zu einer Zeit hatten, in der das noch ein bisschen schwieriger war, werden die erzählen, dass sie schon als Kinder – noch bevor sie überhaupt über so etwas wie Sexualität nachgedacht haben – fasziniert von dieser Veranstaltung waren und dass ihnen diese Veranstaltung geholfen hat, das eigene Anderssein anzunehmen. 1998 hat Dana International für Israel gewonnen, eine trans Frau. Damals waren die deutschen Medien überhaupt noch nicht so weit, das Vokabular war noch gar nicht richtig vorhanden. Da konnte man dann sowas lesen wie "ein Transvestit" oder "war mal ein Mann". Heute offenbart man mit solchen Formulierungen, dass man es noch nicht so ganz verstanden hat. Das zeigt aber auch: Man kann beim ESC ein Millionenpublikum an einem Samstagabend an dieses Thema vorsichtig heranführen. Das ist eine Dimension dieser Veranstaltung, die ich neben dem völkerverbindenden Aspekt wahnsinnig wichtig finde.
Mit einem Satz gesagt: Wie politisch ist der ESC?
Der ESC ist so politisch wie das Leben.
Über den Gesprächspartner:
- Lukas Heinser, Jahrgang 1983, ist Journalist und Song-Contest-Experte, leitete unter anderem bis 2014 bildblog.de. Von 2013 bis 2023 war Heinser Assistent des ESC-Kommentatoren
Peter Urban , ab 2024 ist er nun die rechte Hand des neuen Kommentators Thorsten Schorn. Von Heinser erschien 2022 das Buch "Eurovision Song Contest – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten".
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