Im August 2021 wurde die Bundesregierung vom Siegeszug der Taliban in Afghanistan kalt erwischt. Die Evakuierungsaktion für Soldaten, Mitarbeiter und Ortskräfte musste überhastet erfolgen. Was ist damals schiefgelaufen? Der Untersuchungsausschuss des Bundestags kommt zum Schluss: Die Regierung war schlecht informiert und schlecht abgestimmt.

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111 Zeugen haben ausgesagt. Die damalige Bundeskanzlerin war geladen, genau wie zahlreiche Minister. 6.843 Dateien haben die Abgeordneten ausgewertet, die Ergebnisse füllen 1,4 Millionen Seiten.

Das ist das Ergebnis des Untersuchungsausschusses im Bundestag zum Afghanistan-Abzug im Sommer 2021. Zumindest in Zahlen. "Die Dimension war beachtlich", sagt der Vorsitzende Ralf Stegner (SPD). Am Dienstag haben Mitglieder des Ausschusses in der Bundespressekonferenz ihre Erkenntnisse vorgestellt.

Das inhaltliche Ergebnis: Die Bundesregierung war damals schlecht informiert – und verzettelte sich in unterschiedlichen Einschätzungen, statt eine gemeinsame Strategie zu verfolgen. Es herrschten Wunschdenken und Kompetenz-Wirrwarr.

Hals-über-Kopf-Rückzug aus Afghanistan nach 20 Jahren

Zweieinhalb Jahre lang haben sich die Abgeordneten mit den Ereignissen des August 2021 und deren Vorgeschichte beschäftigt. Damals endete der rund 20-jährige Einsatz der Bundeswehr und anderer westlicher Armeen in Afghanistan mit einem Desaster.

Nach den islamistischen Anschlägen des 11. September 2001 hatte eine von den USA geführte internationale Koalition die radikalislamischen Taliban von der Macht vertrieben. Danach machten es sich zwei internationale Militärmissionen zur Aufgabe, Frieden, Stabilität und Demokratie in das geschundene Land zu bringen. Doch die Taliban ließen sich nie komplett besiegen.

2020 schloss US-Präsident Donald Trump mit den Taliban das sogenannte Doha-Abkommen: Er sagte zu, die amerikanischen Truppen nach und nach aus dem Land abzuziehen. Im Laufe des Sommers 2021 brachten die Taliban dann in unerwarteter Geschwindigkeit das Land unter ihre Kontrolle.

Die westlichen Regierungen – auch die deutsche – zogen ihre Staatsbürger und einige afghanische Ortskräfte überstürzt aus dem Land ab. Offenbar hatten Ministerien und Nachrichtendienste den schnellen Vormarsch der Taliban nicht kommen sehen – und waren auch nicht darauf eingerichtet. Die Bilder von verzweifelten Afghanen, die sich an startende Flugzeuge klammerten, gingen um die Welt. Die vermeintliche Mission für Frieden und Sicherheit endete im Chaos.

Heute herrschen im ganzen Land wieder die Taliban. Der UN-Bildungsorganisation UNESCO zufolge dürfen mindestens 1,4 Millionen Mädchen dort keine Schule besuchen. Frauen müssen in der Öffentlichkeit komplett verschleiert sein und dürfen ihre Stimme nicht erheben, Männer dürfen keine Musik hören, keine Bilder und Videos anfertigen.

Warnungen, aber keine Taktik

Was ist im Sommer 2021 und davor in der deutschen Regierung schiefgelaufen? Erstens: Nach Ansicht des Untersuchungsausschusses war die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD über die Entwicklung in Afghanistan nicht ausreichend informiert. Der Bundesnachrichtendienst (BND) als Auslandsgeheimdienst warnte zwar vor dem Szenario "Emirat 2.0" in Afghanistan. Wie schnell dieses Szenario Wirklichkeit werden würde, wie schnell die Hauptstadt Kabul fallen würde, sah aber auch der BND nicht kommen.

"Es hat ganz massiv an politischer Führung gemangelt."

Sara Nanni

Der BND müsse besser werden, sei aber auch nicht der Hauptverantwortliche, sagen die Ausschussmitglieder. Grünen-Politikerin Sara Nanni findet: Politikerinnen und Politiker müssten die Informationen der Geheimdienste auch regelmäßig einfordern und sich einlesen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe im Ausschuss ausgesagt, das Szenario "Emirat 2.0" gar nicht gekannt zu haben. Das sei "schon allerhand", sagt Nanni. "Es hat ganz massiv an politischer Führung gemangelt."

Die FDP-Politikerin Ann-Veruschka Jurisch fordert eine Abkehr vom Wunschdenken. Die Spitzen der Regierung müssten sich auch stärker auf den schlimmsten Fall vorbereiten und nicht nur auf das optimistischste Szenario hinarbeiten, sagt sie.

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Die Lehren aus dem Afghanistan-Abzug

Zur mangelnden Information kam offenbar hinzu: Die beteiligten Bundesministerien – Äußeres, Inneres, Verteidigung, Entwicklungszusammenarbeit und das Kanzleramt – hatten zum Teil unterschiedliche Lagebilder und unterschiedliche Präferenzen. Es gab "nicht den einen Fehler, nicht den einen Verantwortlichen, sondern ein Bild von Defiziten", sagt der stellvertretende Ausschuss-Vorsitzende Thomas Erndl (CSU).

Der Ausschuss-Vorsitzende Ralf Stegner nennt drei zentrale Lehren aus dem überhasteten Abzug: Erstens müsse die Arbeit der deutschen Geheimdienste besser werden. Zweitens müsse sich die Politik immer auf alle Szenarien einstellen – auch die schlimmsten. Und drittens müssten die unterschiedlichen Bundesministerien ihr "Silo-Denken" überwinden. Stattdessen brauche es ein gemeinsames Lagezentrum.

Die FDP-Politikerin Jurisch fordert dafür einen "nationalen Sicherheitsrat". Sie sagt: "Afghanistan darf kein Menetekel werden, wir müssen einfach besser werden."

Verwendete Quellen

  • PK in der Bundespressekonferenz
  • unesco.org: Afghanistan: 1.4 million girls still banned from school by de facto authorities