Am 15. April sollen die drei letzten Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gehen. Für den SPD-Politiker Matthias Miersch ist der Ausstieg ein Gebot der Vernunft. CDU-Chef Friedrich Merz ist dagegen überzeugt: Es wäre vernünftig, die Meiler weiterlaufen zu lassen.

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Es war ein Abschied auf Raten, ein Abschied über mehr als zwei Jahrzehnte. Am 22. April 2002 hat der Bundestag den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Jetzt, 21 Jahre später, soll er endgültig vollzogen werden: Am kommenden Freitag (15. April) müssen die letzten drei Meiler in Deutschland vom Netz gehen.

Matthias Miersch: "Atomkraft produziert hochgiftigen Müll für 30.000 Generationen"

Für Matthias Miersch ist das eine gute Nachricht: "Atomkraft ist eine hochriskante, teure Technologie, die hochgiftigen Müll für 30.000 Generationen produziert", sagt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion gegenüber unserer Redaktion. Für den deutschen Atommüll habe man noch lange kein Endlager gefunden, sagt Miersch. "Alleine aus diesem Grund ist es ein Gebot der Vernunft, keinen weiteren Atommüll zu produzieren und aus der dreckigen Atomkraft auszusteigen."

Mit dieser Haltung wussten SPD und Grüne lange Zeit einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich. Der Streit um die Atomkraft hatte die Bundesrepublik über Jahrzehnte polarisiert. Im Sommer 2011 ergab eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), dass etwa drei Viertel aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger für den Ausstieg aus der Kernkraftnutzung waren.

Deutschland stand damals unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Fukushima. 2010 hatte die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP zwar die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert. Nach Fukushima beugte sie sich aber dem öffentlichen Druck und nahm die Laufzeitverlängerung wieder zurück.

Mehrheit der Deutschen hat Meinung zum Atomausstieg verändert

Nach und nach gingen anschließend die deutschen Atommeiler vom Netz. Jetzt sind die drei letzten an der Reihe: Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2. Allerdings ist die Welt mal wieder eine andere geworden: Seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine und den Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland hat Moskau dem Westen den Gashahn zugedreht. Außerdem ist eine neue Klimaschutzbewegung entstanden, die mehrheitlich in Kohlekraftwerken das größere Übel sieht als in der längeren Nutzung von deutlich emissionsärmeren Kernkraftwerken.

Inzwischen zweifelt eine Mehrheit der Deutschen nicht mehr an der Atomkraft – eher am Abschied davon: Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag unserer Redaktion ergab im vergangenen September, dass 67 Prozent der Deutschen dafür sind, die drei letzten Meiler entweder begrenzt oder unbegrenzt weiterzubetreiben.

Streckbetrieb: Ein Kompromiss nach langem Streit

In der Ampel-Koalition hat sich die FDP im vergangenen Jahr heftig gegen den endgültigen Ausstieg gewehrt – und ihre Kritik an dem Schritt vor kurzem noch einmal erneuert.

Auch die Oppositionsparteien CDU, CSU und AfD halten das Abschalten für falsch. "Wir haben schon im Sommer vergangenen Jahres gesagt, dass es richtig gewesen wäre, neue Brennstäbe zu bestellen und die letzten drei Atomkraftwerke mindestens bis zum Jahr 2024 weiterlaufen zu lassen", sagt der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz im Gespräch mit unserer Redaktion. "Im Ausland werden Sie kaum jemanden finden, der Verständnis dafür hat, dass Deutschland in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten drei sichere, CO2-freie Anlagen der Energieerzeugung abschaltet und dafür wieder auf Kohle und Gas setzt."

Im vergangenen Herbst hatte sich die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP nach langen Diskussionen darauf geeinigt, die drei Kraftwerke in einen begrenzten Streckbetrieb zu schicken. Eigentlich hätten sie schon zum Jahresende 2022 vom Netz gehen sollen. Bundeskanzler Olaf Scholz entschied aber, dass sie mit den vorhandenen Brennstäben noch einige Monate weiterlaufen sollen. Bis zum 15. April dieses Jahres. Und dann?

"Dann muss die Koalition dafür sorgen, dass zehn Millionen Haushalte mit Strom aus anderen Energiequellen versorgt werden", sagt CDU-Chef Merz. "Im Zweifel sind das dann Kohlekraftwerke – vor allem im Südwesten, wo ein großer Teil der Energie entsteht und verbraucht wird."

Friedrich Merz (CDU): "Die Gefahr ist nicht gebannt"

Die Opposition hatte schon im vergangenen Herbst vor Stromausfällen gewarnt. Die sind im Winter zwar ausgeblieben – doch Merz erneuert seine Warnung. "Wir haben wiedergegeben, was sehr viele Fachleute genauso beurteilt haben: Die Überlastung und Destabilisierung von Stromnetzen kann zu Ausfällen führen", sagt er. "Diese Gefahr ist nicht gebannt."

Dass die Deutschen in Sachen Energieversorgung gut durch den Winter gekommen sind, hat aus seiner Sicht zwei Ursachen: Erstens war der Winter mild. Zweitens habe die Industrie ganze Produktionsteile heruntergefahren, und die privaten Haushalte hätten gespart. "Das ist aber kein Weg, den wir auf Dauer gehen können. Das Problem bleibt: Wir haben in diesem Land zu wenig grundlastfähigen Strom", kritisiert Merz.

6,4 Prozent der Stromerzeugung in Deutschland

Das Argument der mangelnden Grundlast wird von Atomkraftgegnern bezweifelt: Atomstrom verstopfe vielmehr die Netze für die erneuerbaren Energien, lautet ein Gegenargument. Eine Herausforderung bleibt aber die Schaffung von ausreichenden Speicherkapazitäten, damit Wind- und Solarenergie auch genutzt werden können, wenn nicht der Wind weht oder die Sonne scheint.

Nach Einschätzung von SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch ist Deutschland trotzdem auch ohne Kernenergie für die Zukunft gerüstet: "Auf den kommenden, schrittweisen Atomausstieg haben wir uns lange vorbereitet", sagt er. Mit Herunterfahren der letzten drei Meiler droht aus seiner Sicht keine Gefahr für die Versorgungssicherheit. "Das Schreckgespenst der Blackouts haben Atom-Fans bislang vor jeder Abschaltung eines Meilers an die Wand gemalt. Es ist nie zu einer Versorgungsunterbrechung gekommen."

Miersch stellt sich in dieser Frage hinter Robert Habeck (Grüne): "Der Bundeswirtschaftsminister hat unsere Stromversorgung in umfangreichen Untersuchungen mehreren Stresstests unterzogen – mit einem Ergebnis: Es drohen keine Blackouts. Blackouts drohen viel eher im Nachbarland Frankreich, die mit aller Kraft auf Atom setzen. Hier ist die Versorgung alles andere als stabil."

Der Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung betrug 2022 in Deutschland laut Statistischem Bundesamt noch 6,4 Prozent. Das ist deutlich weniger als vor 20 Jahren, als der Anteil noch bei mehr als 30 Prozent lag. Der Druck, die Erneuerbaren Energien auszubauen und in großem Stil für bessere Stromspeicher zu sorgen, wird mit dem endgültigen Ende der Kernenergie-Nutzung in Deutschland trotzdem zunehmen. Für ein Industrieland dieser Größe ist der Ausstieg in jedem Fall ein gewagter Schritt. Wie gewagt – das wird die nahe Zukunft zeigen.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Friedrich Merz
  • Stellungnahme von Matthias Miersch
  • Bundesamt für Sicherheit der nuklearen Entsorgung: Der Atomausstieg in Deutschland
  • Statistisches Bundesamt: Stromerzeugung 2022: Ein Drittel aus Kohle, ein Viertel aus Windkraft
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