• Solange wie er war noch niemand Vorsitzender der AfD, doch er ist längst nicht mehr unangefochten: Jörg Meuthen hat mit seiner Parteitagsrede in Kalkar für Aufruhr in der AfD gesorgt.
  • Wie viel Unterstützung hat der 59-Jährige noch in der Partei? Was sind seine Visionen? Und ist er wirklich so gemäßigt, wie er sich gibt?
  • Ein Politikwissenschaftler, ein Politikberater und ein Soziologe geben Antworten.
Eine Analyse

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Alexander Gauland hat nochmal nachgelegt. Die Brandrede von AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen auf dem AfD-Parteitag in Kalkar beschäftigt den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion auch noch eine Woche später: "Ton, Zeitpunkt und Inhalt dieser Rede waren eines Vorsitzenden nicht würdig", sagte Gauland am Samstag bei einer Versammlung der AfD-Niedersachen in Braunschweig. Meuthen habe dem Verfassungsschutz eine "Steilvorlage" gegeben.

Die parteiinterne Debatte um die Ausrichtung ist alles andere als beendet. Im Gegenteil: Die Diskussion tritt derzeit so offen und heftig zu Tage wie seit Jahren nicht.

Parteichef Meuthen hatte am vergangenen Samstag von "Provokateuren" in den eigenen Reihen gesprochen und die Partei vor dem Wahljahr 2021 zu Disziplin ermahnt. Der 59-Jährige warf mit der wütenden Rede, die er selbst als "notwendigen Ordnungsruf" an die Partei bezeichnete, drei zentrale Fragen auf:

  • Was hat Meuthen zu der umstrittenen Rede veranlasst?
  • Ist er so gemäßigt, wie er sich selbst gibt?
  • Und: Wird er so enden wie die einstigen Parteichefs Bernd Lucke und Frauke Petry?

Seit nunmehr fünf Jahren hält sich der gebürtige Essener auf dem Rodeobullen des AfD-Parteivorsitzes – solange wie keiner vor ihm. Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke glaubt, dass Meuthen nun schneller zu Fall kommen könnte, als ihm lieb ist.

"Meuthen wird nicht noch einmal für den Parteivorsitz kandidieren können", sagt der AfD-Experte im Gespräch mit unserer Redaktion. Grund dafür: Die Parteitagsrede. Diese sei Kalkül gewesen, um den zumindest offiziell aufgelösten rechtsextremen Flügel bloßzustellen, erklärt Funke. Zugleich habe Meuthen damit auch jeden Integrationswillen kompromittiert. Im Flügel sammelten sich völkisch-nationalistische und rechtsextreme AfD-Mitglieder um den Thüringer Landeschef Björn Höcke.

Außenseiter in der Führungsriege

Es sei eine Rede der Spaltung gewesen, getrieben von der Phantasie einer Abspaltung des Höcke-Flügels, spekuliert Funke. Durch die Rede habe Meuthen aber zugleich die Entschiedenheit des Flügels verstärkt. "Wenn sein Motiv nicht war, die Partei noch einmal auf einen gemäßigteren Kurs herumzureißen, hat er entweder beabsichtigt, die AfD vor dem Verfassungsschutz zu schützen oder seine persönliche Haut als Staatsbeamter retten wollen", sagt Funke.

Egal, aus welchen Motiven der Co-Vorsitzende und EU-Parlamentarier gehandelt hat, der Politologe ist sich sicher: "Meuthen hat sich bei seiner Annahme geirrt, er finde in der Partei klare Mehrheiten für einen gemäßigteren Kurs." So können die Meuthen-Anhänger auf dem Parteitag einen Missbilligungs-Antrag des Flügels "zum spalterischen Gebaren" des Bundessprechers nur mit knapper Mehrheit abwehren.

Für die Vision einer bürgerlichen, rechtsstaatlichen und konservativen AfD rechts der CDU brauche Meuthen den Konflikt mit dem Flügel – ihn zu gewinnen werde im vergifteten Machtkampf immer schwieriger, betont Funke.

Innerparteilicher Spalter

Fedor Ruhose ist Autor des Buches "Die AfD vor der Bundestagswahl 2021". Er hält Meuthen mit der Strategie, die AfD als vermeintlich bürgerliche Kraft zu positionieren, für einen Außenseiter in der Führungsriege: "Der Co-Parteivorsitzende grenzt sich damit von allen anderen Führungspersonen der AfD ab, die versuchen die Partei in ihrer Heterogenität zu erhalten", sagt Ruhose, der für die SPD-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz arbeitet.

Das Abstimmungsverhalten auf dem Parteitag zur Meuthen-Rede hat gezeigt, dass die AfD eigentlich aus zwei Parteien bestehe, die sich nicht so sehr in inhaltlichen Fragen gegenüberstehen, sondern in der Art und Weise des Auftretens. "Während der eine Teil parlamentsorientiert wirken will, sucht der andere Teil den Schulterschluss mit Bewegungen wie Pegida oder aktuell mit der so genannten 'Querdenken'-Bewegung", erklärt Ruhose. Meuthen habe mit seinem Agieren weniger als ein Jahr vor der Bundestagswahl zur weiteren inneren Spaltung seiner Partei beigetragen, hebt auch Ruhose hervor.

Inszenierte Selbstdarstellung

Die Darstellung seiner Person als "gemäßigt" und als glaubwürdiges Gegengewicht zum Flügel hält Soziologe Andreas Kemper derweil für inszeniert. So sagte Meuthen noch auf dem AfD-Parteitag 2017: "Ich stehe zum Flügel. Er ist integraler Bestandteil der Partei." Der Parteichef sprach zudem 2016, 2017 und 2018 auf den vom Flügel organisierten "Kyffhäusertreffen".

"Er hat dort dem fanatischen Flügelanhänger Dubravko Mandic ein Interview gegeben und über den Flügel als wahre Opposition, von dem aus sich Deutschland erneuern werde, phantasiert", betont Kemper.

Unter seinen Referenten im Europaparlament seien außerdem Ultra-Libertäre. "Sein Assistent Thomasz Froelich ist eigentumsfanatischer Manchester-Kapitalist, fordert beispielsweise staatliche Schulen abzuschaffen", sagt Kemper. Solche Utopien, die zum Meuthen-Lager gehörten, seien nicht weniger fanatisch und demokratiefeindlich als die des rechtsextremen Höcke-Flügels.

Gegner des völkischen Flügels

Auch Politikwissenschaftler Funke sagt: "Wenn Meuthen als gemäßigt daherkommt, ist das nur die halbe Wahrheit. Er vertritt im Kern viele Grundideen seiner Partei und teilt den ethnozentrisch-rassistischen Code." Meuthen sei radikal gegen "Kulturfremde" und habe noch im Brandenburger Landtagswahlkampf Andreas Kalbitz lobend als "harten Hund" erwähnt. In einem Interview mit dem "Deutschlandfunk" hatte Meuthen im Herbst 2019 noch gesagt: "Von dem kann ich gesichert sagen: Dieser Mann ist nicht rechtsextrem."

Nur wenige Monate später erklärte der AfD-Bundesvorstand – vor allem auf Drängen von Meuthen – Kalbitz' Parteimitgliedschaft für nichtig, weil er beim Parteieintritt seine Vormitgliedschaften in der Neonaziorganisation "Heimattreue Deutsche Jugend" und bei den Republikanern nicht angegeben hatte. Damit hatte sich Meuthen zum Gegner des völkisch-nationalistischen Flügels gemacht – so wie früheren Parteivorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry.

Endet er wie Petry und Lucke?

Höcke und der damalige sachsen-anhaltinische AfD-Landeschef André Poggenburg hatten im März 2015 die sogenannte Erfurter Resolution initiiert, die sich gegen den AfD-Gründer Lucke richtete. Nachdem Luckes Versuch scheiterte, die AfD als eine Partei zu bewahren, die sachlich und konstruktiv sowohl konservative als auch liberale und soziale Wertvorstellungen vertritt, verließ er die AfD. Auch Petry trat im Richtungskampf zwei Jahre später aus.

AfD-Kenner Kemper glaubt hingegen nicht, dass Meuthen nun das gleiche Schicksal droht. "Wäre Meuthen weg, würde nicht mehr viel bleiben: Dann gäbe es einen kompletten Durchmarsch des Höcke-Flügels."

Vielfältige Unterstützung

Anders als Lucke und Petry damals, hat Meuthen heute mehr Unterstützer – vor allem im Westen Deutschlands. "Der Höcke-Flügel hat aktuell nicht die Kraft, ihn abzusetzen. Er herrscht ein Gleichgewicht zwischen den Lagern mit einer leichten Tendenz für Meuthen", sagt Kemper. Auf dem Parteitag habe es keine Mehrheiten dafür gegeben, ihn abzusägen.

"Meuthen hat in der Personalfrage sogar dazugewonnen. Denn die nachgewählten Posten im Parteivorstand wurden von Personen besetzt, die nicht zum Höcke-Lager gehören", erinnert Kemper. Einem Mächteverhältnis folgend hätte aber jemand nachgewählt werden müssen, der ähnlich faschistisch sei wie Kalbitz – dessen Stelle war nämlich freigeworden.

Trotz allem: Inhaltlich konnte sich Meuthen mit seinem Vorstoß zu einem kapitalgedeckten Rentenmodell und der Abschaffung des Umlagesystems auf dem Parteitag nicht durchsetzen. Die Delegierten verabschiedeten dort ein Rentenkonzept, dass vielmehr den "sozialpatriotischen" Vorstellungen des Höcke-Flügels entspricht.

Laut Ruhose ist Meuthen für seine innerparteilichen Gegner aktuell nicht nachhaltig zu schwächen. "Als erstes fehlte in Kalkar jemand wie Andreas Kalbitz, der als Organisator des aufgelösten Flügels bislang auf Parteitagen Mehrheiten und Bündnisse bei Personal- und Sachfragen organisieren konnte", meint Ruhose.

Höcke sei auf dem Parteitag nicht sichtbar in den Konfliktdebatten gewesen. "Zweitens hat Meuthen mit seinen knappen Parteitagsmehrheiten seine Mehrheit im Bundesvorstand stabilisiert und ausbauen können", führt der Experte aus. Und nicht zuletzt wüssten auch Meuthens Gegner um die Wichtigkeit der Parteieinheit.

Probe bei der Bundestagswahl

"Die AfD benötigt beide Seiten zum Erfolg. Eine Entscheidung des Konflikts vor der Bundestagswahl würde die AfD wahrscheinlich nachhaltiger schwächen als die aktuelle Diskussion um die Beobachtung durch den Verfassungsschutz es vermag. Diese Diskussion ist dem überwiegenden Teil der Wählerschaft nämlich schlicht egal", sagt Ruhose.

Spätestens nach der Bundestagswahl dürfte Meuthen das nächste Mal in Frage gestellt werden: "Wenn die Wahl für die AfD ein Desaster wird, sie etwa unter 10 Prozent fällt, steht die Führungsriege und damit auch Meuthen in Frage", ist sich Kemper sicher. Wenn es überhaupt dazu kommt: "Nach Meuthens Parteitagsauftritt traue ich ihm alles zu, sogar einen Austritt", sagt Funke.

Über die Experten:
Prof. Dr. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland. Bis zu seiner Emeritierung 2010 lehrte er am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Von ihm ist jüngst erschienen: "Die Höcke-AfD“. Vom gärigen Haufen zur rechtsextremen "Flügel"-Partei.“
Fedor Ruhose ist Policy Fellow des Berliner Think Tanks "Das Progressive Zentrum". Jüngst ist sein Buch "Die AfD vor der Bundestagswahl 2021" im Springer VS Verlag erschienen. Hauptberuflich ist er Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz.
Andreas Kemper ist Publizist und Soziologe. Er studierte Philosophie, Soziologie und Pädagogik an der Universität Münster und FU Berlin. Kemper beobachtet die AfD seit ihren Gründungstagen und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur AfD. Dazu zählt sein Buch "Rechte Euro-Rebellion: Alternative für Deutschland und Zivile Koalition e.V.“.

Verwendete Quellen:

  • Deutschlandfunk: "Wir haben uns als Volkspartei etabliert"
  • Mit Material der Deutschen Presse-Agentur
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