In der Serie "Zukunft Deutschland" beleuchtet unsere Redaktion Herausforderungen, vor denen das Land steht – und die Chancen, die sich daraus ergeben. Dieses Mal geht es um die Pflege. Die Pflegeversicherung ist unterfinanziert, der Fachkräftemangel in der Branche groß. Wie könnte eine sinnvolle Reform aussehen?
Ein Beispiel aus dem Vogtland in Sachsen: Für ihren Platz in einem Pflegeheim muss Erna B. (Name von der Redaktion geändert) dort künftig 2.767,61 Euro pro Monat zuzahlen. Ihre Rente reicht dafür nicht aus – die Durchschnittsrente in Sachsen liegt bei 1.301 Euro. Erna B. muss also ihr Erspartes heranziehen. Und wenn das aufgebraucht ist? Dann kann das Sozialamt Schenkungen von Menschen zurückfordern, denen die Frau in den vergangenen zehn Jahren etwas zukommen ließ.
So ein Fall ist alles andere als eine Seltenheit. Für das erste Jahr in einem Pflegeheim müssen Bewohnerinnen und Bewohner inzwischen im Schnitt 2.548 Euro bezahlen. Eine Summe, die die finanziellen Möglichkeiten von vielen übersteigt. Die Pflege wird für immer mehr Menschen zu einem Armutsrisiko.
Pflegeversicherung: Aus dem Gleichgewicht geraten
Die Betreuung von alten und kranken Menschen wird maßgeblich über die 1995 eingeführte Pflegeversicherung finanziert: Dort zahlen alle gesetzlich Krankenversicherten Beiträge ein. Privatversicherte müssen eine private Pflegeversicherung abschließen. Die Einnahmen finanzieren das Pflegegeld für die häusliche Pflege oder Zuschüsse für einen Heimplatz.
Im Gegensatz zur Kranken- ist die Pflegeversicherung eine Teilkasko-Versicherung: Sie soll nur einen Teil der Kosten abdecken, für den Rest müssen die Betroffenen selbst aufkommen.
Doch schon die Zuzahlung für einen Heimplatz können viele Menschen nicht mehr schultern. Die Einnahmen aus der Pflegeversicherung auf der einen Seite, die Kosten für die Pflege und die Bedürfnisse der Betroffenen auf der anderen Seite: Beides ist aus dem Gleichgewicht geraten. 2022 wies die Pflegeversicherung ein Defizit von rund zwei Milliarden Euro auf.
Die Situation wird sich weiter zuspitzen. In unserer alternden Gesellschaft steigt die Zahl der Pflegebedürftigen: Dem Statistischen Bundesamt zufolge hat sie sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt: von zwei auf jetzt rund fünf Millionen Menschen. Der "Zeit"-Journalist David Gutensohn spricht in seinem Buch "Pflege in der Krise" von einem "Kipppunkt" am Ende des laufenden Jahrzehnts. Dann gehen die Menschen der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand – und viele von ihnen werden ebenfalls auf Pflege angewiesen sein.
Fairere Löhne treiben die Personalkosten in die Höhe
Auch die Zahl der Pflegekräfte kann mit dieser Entwicklung nicht mithalten. Der Fachkräftemangel ist deshalb das andere große Problem des Pflegesystems. Der Agentur für Arbeit zufolge kamen im vergangenen Mai auf 100 offene Stellen im Schnitt nur 33 arbeitssuchende Pflegefachkräfte. Die Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass bis 2030 allein in dem Bereich etwa 500.000 Vollzeitkräfte in Deutschland fehlen werden, wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen.
Das System gleicht stellenweise einem Teufelskreis. Der Fachkräftemangel verschärft die Arbeitsbedingungen für die vorhandenen Pflegekräfte – und schmälert damit die Attraktivität des ohnehin anstrengenden Berufs. Um den Job attraktiver zu machen, gilt seit rund einem Jahr eine Tarifpflicht: Pflegebetriebe müssen ihr Personal nach Tarifvertrag bezahlen oder ein vergleichbares Gehalt anbieten.
Doch Pflegeheim- und Pflegdienstbetreiber klagen seitdem über steigende Personalkosten, müssen diese Kosten entweder an ihre Kunden weitergeben – oder selbst aufgeben. Viele ambulante Pflegedienste nehmen aufgrund von Personalmangel inzwischen keine neuen Kunden mehr an oder kündigen den bestehenden. Pflegeheimbetreiber befürchten eine Pleitewelle.
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Mühsame Suche nach Entlastung
Zu spüren bekommen diese Probleme auch die Angehörigen: Vier von fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause von Familie oder Freunden betreut. Pflegende Angehörige bilden damit den größten Pflegedienst der Republik. Für viele von ihnen geht der Rund-um-die-Uhr-Job mit großer körperlicher, finanzieller und seelischer Belastung einher.
Ein Anruf bei Kornelia Schmid im bayerischen Amberg: Die Vorsitzende des Vereins "Pflegende Angehörige" pflegt seit mehr als 20 Jahren ihren an Multipler Sklerose erkrankten Mann, inzwischen betreut sie auch ihre Mutter.
Wenn sie mal Urlaub machen will, muss sie sich lange vorher um Kurzzeitpflege-Plätze in einem Heim bemühen. Doch die zu bekommen, wird angesichts der Personalnot immer schwieriger. "Jeder Mensch braucht Auszeiten, jeder Mensch braucht Wochenenden und ab und zu Urlaub", sagt die 63-Jährige. "Das haben wir nicht."
Schmids Mann bekommt 901 Euro Pflegegeld im Monat. Davon muss sie die Diakonie bezahlen, wenn sie sich in der Pflege helfen lässt. Der Großteil des Betrags geht dafür drauf. Wenn sie das Pflegegeld aber für Leistungen von Pflegediensten ausgibt, schmälert das ihre eigenen Rentenansprüche. Die Pflegegeld-Erhöhungen der vergangenen Jahre hätten zudem mit der Inflation nicht schrittgehalten, sagt Schmid. "Das ganze System ist total irre."
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2023 kam nur eine kleine Pflegereform
Im vergangenen Mai hat der Bundestag eine Pflegereform beschlossen. Es war eine denkwürdige Sitzung, denn Rednerinnen und Redner aller Fraktionen sagten mal mehr, mal weniger deutlich: Reichen wird das nicht.
Das Pflegegeld steigt zum 1. Januar 2024 um fünf Prozent. Möglich ist das, weil die Beiträge zur Pflegeversicherung für Kinderlose sowie Arbeitnehmer mit einem Kind ebenfalls leicht steigen (siehe Grafik). Die Ampel-Koalition hat sich damit ein bisschen Zeit verschafft. Doch die Parteien sind sich auch einig: Immer wieder die Beiträge zur Pflegeversicherung zu erhöhen oder sie mit Steuermitteln zu stützen, ist keine langfristige Lösung.
Doch wie könnte ein großer Wurf für das Pflegesystem aussehen? Bei dieser Frage gehen die Vorstellungen der Parteien weit auseinander.
Claudia Moll: Ansprüche an Pflege haben sich verändert
Claudia Moll ist Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung. Die SPD-Bundestagsabgeordnete weiß, wovon sie spricht, denn sie hat selbst in der Altenpflege gearbeitet.
Moll plädiert dafür, vom Prinzip der Teilkasko-Versicherung abzurücken: Mit diesem Prinzip werde nämlich verdeutlicht, "dass in unserem System die Leistungen der Pflegeversicherung gar nicht ausreichen können, um alle notwendigen Leistungen zu finanzieren", erklärt Moll unserer Redaktion.
Die Gesellschaft habe sich seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 verändert. "Viele Familien leben nicht mehr in Generationen zusammen, oftmals wohnen die Kinder weit weg. Die Ansprüche an Pflege und an Selbstbestimmung sind zu Recht andere als noch vor 30 Jahren", sagt Moll. "Deswegen brauchen wir eine breite Debatte, darüber, was die Pflegeversicherung leisten soll und leisten kann."
Bürgerversicherung oder private Vorsorge?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will im kommenden Jahr ein grundlegendes Finanzierungskonzept für die Pflegeversicherung vorlegen. Es dürfte spannend werden, was er sich vorstellt. Denn die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP haben bei diesem Thema höchst unterschiedliche Vorstellungen.
In ihrem Koalitionsvertrag haben sie vereinbart, die Einführung einer "freiwilligen Zusatzversicherung" zu prüfen, die Pflegekosten vollständig absichern würde. Doch wie genau das aussehen könnte, ist unklar - und das Thema spielt in der öffentlichen Diskussion derzeit praktisch keine Rolle.
Lauterbach möchte aus der Pflegeversicherung eine "Vollkasko-Versicherung" machen. Allerdings ist derzeit keine politische Mehrheit absehbar, um sie zu finanzieren.
SPD, Grüne und Linke sprechen sich im Gesundheits- und Pflegebereich für eine sogenannte Bürgerversicherung aus: Dort würden alle Berufstätigen einzahlen, also auch Unternehmer und Unternehmerinnen, Beamte und Abgeordnete. Das würde zwar die Zahl der Anspruchsberechtigten erhöhen, aber auch die finanzielle Basis erweitern.
CDU, CSU, FDP und AfD lehnen ein solches Modell ab. Die Unionsparteien und die Liberalen wollen am Teilkasko-Prinzip festhalten und die private Vorsorge stärken: Bürgerinnen und Bürger sollen Anreize bekommen, selbst stärker für den eigenen Pflegefall vorzusorgen.
Olaf Scholz: "Dürfen nicht nachlassen"
Die andere große Baustelle bleibt der Personalmangel. Ohne Arbeitskräfte aus anderen Ländern wird er nicht zu bewältigen sein. Die Bundesregierung will deshalb die Einwanderung von Fachkräften vereinfachen und wirbt in Ländern wie Brasilien offensiv um Pflegende. Doch das ist kein Selbstläufer mehr: Deutschland ist für ausländische Arbeitskräfte nur noch mittelmäßig attraktiv.
Um Menschen aus dem Ausland wie aus dem Inland für den Beruf zu gewinnen, ist deswegen klar: Er muss attraktiver werden. Die Pflegebevollmächtigte Moll sagt, es brauche ein "Maßnahmenbündel", etwa eine neue Aufgabenteilung zwischen Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten und Therapeuten oder verlässliche Erholungsphasen.
Journalist Gutensohn nennt in seinem Buch "Pflege in der Krise" weitere Punkte: Die Branche brauche weniger Bürokratie und flexiblere Arbeitszeiten, Pflegekräfte müssten mehr Mitsprache, Verantwortung und Aufstiegsmöglichkeiten erhalten.
Vor kurzem hat sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz zum Thema geäußert. Auf seiner Sommerpressekonferenz sagte er, für ihn sei die Zukunft der Pflege ein Thema, "bei dem wir nicht nachlassen dürfen". "Und da können Sie sich auch drauf verlassen, dass wir das nicht machen", sagte Scholz. Die Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen werden ihn an diesen Worten messen.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Kornelia Schmid, Pflegende Angehörige e.V.
- Büro der Bundestagsabgeordneten Yvonne Magwas
- Pflegebevollmächtigte des Bundes, Geschäftsstelle
- bertelsmann-stiftung.de: Pflegereport 2030: Die Versorgungslücke in der Pflege wächst
- Bundesagentur für Arbeit: Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich
- David Gutensohn: Pflege in der Krise – Applaus ist nicht genug (Atrium Verlag 2021)
- destatis.de: Mehr Pflegebedürftige
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