Nach dem Anschlag und der Geiselnahme in Paris und Razzien in Frankreich, Belgien und Deutschland steht Europa vor der Frage, wie solche Angriffe künftig abgewehrt werden können. Rufe nach neuen Sicherheitsgesetzen werden lauter. Und das, obwohl bestehende Systeme bislang nur mäßig funktionieren. Die Europäische Union steht sich dabei teils selbst im Weg.

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Einen EU-Geheimdienst als solchen gibt es nicht. Denn: Grundsätzlich liegt der Kampf gegen Terrorismus in nationaler Kompetenz. Zwar kommt dieser Funktion INTCEN (kurz für Single Intelligence Assessment Centre) am nächsten. Doch die dem Europäischen Auswärtigen Dienst unterstellte Behörde darf rein rechtlich keine aktive Spionage betreiben. Künftig soll sie aber enger mit Europol zusammenarbeiten. Das EU-Organ mit Sitz in den Den Haag koordiniert die Zusammenarbeit nationaler Ermittler im Kampf gegen organisierte Kriminalität und soll den Informationsaustausch erleichtern. Seit 2010 können EU-Länder zudem das US-amerikanische System zur Überwachung von Terrorismusfinanzierung nutzen. Seither hat es mehr als 7.300 Ermittlungshinweise für die EU generiert.

Weniger reibungslos scheint hingegen die intereuropäische Zusammenarbeit zu funktionieren. Als im vergangenen Jahr in einem jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen erschossen wurden, war die Angst um neue Terroranschläge nach Europa zurückgekehrt. Dabei war Mehdi Nemmouche kein Unbekannter. Der französische Geheimdienst hatte den Mann schon lange im Visier. Doch davon wussten die belgischen Behörden nichts. Eine Woche nach dem Attentat wurde er in der Nähe von Marseille in Südfrankreich festgenommen.

Schengen-Informations-System (SIS)

SIS dient dazu, dass Sicherheitsbehörden der Schengenländer Informationen von zur Fahndung ausgeschriebenen Personen oder Gegenständen abrufen können. Bereits 2007 sollte die zweite Generation des Schengen-Informationssystems (kurz SIS II) seinen Vorgänger ablösen. 167,8 Millionen Euro hat die Entwicklung und Problembehebung gekostet, tatsächlich in Betrieb ging es erst 2013. Technische Probleme verhinderten etwa, dass Polizeibeamte, die beispielsweise auf Streife waren und eine verdächtige Person im Visier hatten, auf das System zugreifen konnten. Aus Brüsseler Kreisen heißt es, dass das System noch immer nicht richtig funktioniert. Frankreich hat von allen Mitgliedsstaaten am häufigsten auf das System zugegriffen. Die Kouachi-Brüder, die für das Pariser Attentat gegen das Satiremagazin Charlie Hebdo verantwortlich sein sollen, hatten die französischen Geheimdienste dennoch nicht auf dem Schirm.

Fluggastdatensicherung

Wissen, wer kommt und wer geht, jederzeit: Bilaterale Abkommen über den Austausch von Fluggastdaten gibt es bereits zwischen der EU und den USA sowie mit Australien. Bereits 2011 machte die Kommission einen Vorschlag, der die Fluggesellschaften verpflichtete, Daten der Fluggäste, die in die EU einreisen oder aus ihr ausreisen, an die einzelnen Mitgliedstaaten weiterzuleiten. Doch bislang hat das Europäische Parlament noch keine gemeinsame Position dazu verabschiedet. Zu ihren Gegnern zählen Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im EU-Parlament. Sie fürchtet um den Schutz der Persönlichkeitsrechte auf Kosten von mehr Sicherheit.

Erst im November hat das Parlament mehrheitlich ein geplantes Fluggastdatenabkommen mit Kanada zur Prüfung auf Vereinbarkeit mit EU-Recht an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) verwiesen. Damit wird der Gesetzgebungsprozess verzögert: "Wir befinden uns in einer gefährlichen Zeit, in der notwendige und effektive Maßnahmen im Kampf gegen Terrorismus und Schwerstkriminalität zu treffen sind. Sich hinter dem EuGH zu verstecken, Entscheidungen zu verzögern und somit internationale Kooperationen in Gefahr zu bringen, ist unverantwortlich", sagte Monika Hohlmeier (CSU), innenpolitische Sprecherin der EVP-Fraktion.

Aber auch die Vertreter der Mitgliedsstaaten waren sich bislang uneins. Zudem konnten sie sich nur auf eine deutlich weniger umfangreiche Datensammlung im Vergleich zum US-amerikanischen Modell einigen. So würden innereuropäische Flüge beispielsweise nicht berücksichtigt.

Vorratsdatenspeicherung

Bereits 2006 war das EU-Gesetz in Reaktion auf die Anschläge in Madrid 2004 und London 2005 in aller Eile verabschiedet worden. Doch einige Mitgliedsstaaten sperrten sich gegen seine Umsetzung. So führten Österreich, Schweden und Griechenland die Datenspeicherung erst ein, nachdem sie vor dem EuGH verklagt und wegen Vertragsverletzung verurteilt wurden. 2012 hatten auch die letzten Mitgliedsländer ihren Widerstand aufgegeben - bis auf Deutschland. Dort hatte man ein entsprechendes Gesetz bereits eingeführt, doch 2010 wurde es vom Bundesverfassungsgesetz gekippt.

Im vergangenen April wurde die umstrittene Richtlinie schließlich auf EU-Ebene zurückgezogen - und damit auch das Verfahren gegen Deutschland eingestellt. Das Ergebnis ist ein europäischer Datenflickenteppich. Frankreich speichert seit Jahren die Daten ihrer Bürger. So dürfen die dortigen Behörden auf den Internetdatenverkehr aus den vergangenen zwölf Monaten zurückgreifen, bei Telefondaten sogar doppelt so lang. Doch Frankreichs Geheimdienste hatten die Kouachi-Brüder schon seit Monaten nicht mehr observiert oder abgehört. Ihr Fokus richtete sich stattdessen auf diejenigen, die sich der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und dem Irak angeschlossen haben.

Den Anschlag in Paris konnte die Datensammlung dennoch nicht verhindern, bemängeln nun Politiker wie Sippel: "Wir dürfen dem Terrorismus nicht nachgeben, indem wir panisch unsere demokratischen Freiheiten aufgeben und uns eine Illusion von mehr Sicherheit vormachen", mahnt sie. "Nach den Attentaten von London und Madrid hat das EU-Parlament im Turboverfahren und auf enormen Druck der Mitgliedstaaten die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verabschiedet. Jüngst erst hat der Europäische Gerichtshof aufgrund massiver Grundrechtsbedenken die Richtlinie aber verworfen. Dieser Fehler darf uns nicht noch einmal passieren", betont Sippel im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in Brüssel: Derzeit prüft die EU-Kommission eine mögliche Neuauflage einer EU-weiten Vorratsdatenspeicherung.

Maßnahmen gegen Radikalisierung

Viel wichtiger, als radikalisierte Islamisten wie im Falle der Pariser Attentate im Auge zu behalten, ist ihrer Radikalisierung entgegenzuwirken. Das fordern Kritiker von immer neuen Sicherheitsgesetzen, die die Freiheiten der Bürger einschränkten.

Neben Mehdi Nemmouche, dem Attentäter des jüdischen Museums in Brüssel, radikalisierte sich auch Chérif Kouachi im Gefängnis. Dort lernte er Amédy Coulibaly, der in einem jüdischen Supermarkt in Paris Geiseln festhielt, um die Kouachi-Brüder freizupressen, kennen. Beide trafen in der Haftanstalt Fleury-Mérogis bei Paris den Islamisten Djamel Beghal, der wegen der Vorbereitung von Anschlägen eine zehnjährige Freiheitsstrafe absaß. Coulibaly soll vor Jahren selbst einmal gesagt haben: "Das Gefängnis ist verdammt nochmal die beste Schule für Kriminalität." Seit Jahren warnen Experten vor den Gefahren, die von Gefängnissen als Nährboden für den Terrorismus von morgen ausgehen.

Bereits seit 2010 hat die EU-Kommission das "Radicalisation Awareness Network", das Experten wie Sozialarbeiter und Psychologen aus den EU-Ländern zusammenbringt. Gemeinsam entwickeln sie Programme, die radikalisierte junge Männer und Frauen zurück in die Gesellschaft bringen sollen. Die Arbeit auf nationaler Ebene obliegt hingegen den Mitgliedsstaaten. Sie müssen nun die Initiative ergreifen.

Ob solche oder andere Maßnahmen den Anschlag in Frankreich hätten verhindern hätten können? Vielleicht. Doch viel wichtiger ist die Frage, ob dies in Zukunft gelingen kann. EU-Terrorbeauftragter Gilles de Kerchove glaubt nicht daran. Ein neuer Anschlag in Europa lasse sich nicht "zu hundert Prozent" verhindern, fürchtet er. Die Bedrohung bleibt.

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