Am Mittwoch hat die Union mithilfe der AfD eine Mehrheit für ihren Fünf-Punkte-Plan zur Verschärfung des Asyl- und Zuwanderungsrechts bekommen. SPD, Grüne und Linke sprechen von einem historischen Tag und einem Tabubruch. Historiker Dominik Rigoll sagt: "Es gibt jetzt zwei Lesarten".
Ausgangspunkt für die aktuelle Migrationsdebatte war der Messerangriff von Aschaffenburg mit zwei Toten, der vor einer Woche den Bundestags-Wahlkampf komplett umkrempelte. Die Union unter
Die Union verteidigte ihr Vorgehen, damit, dass man lieber mit der SPD und den Grünen für den Antrag gestimmt hätte. Merz sagte, er suche "keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments", dennoch muss er sich jetzt der Kritik stellen, als Steigbügelhalter der AfD gebrandmarkt zu werden. Auch die von ihm immer wieder beschworene Brandmauer wackelt. Der Historiker Dominik Rigll versucht sich im Gespräch mit unserer Redaktion mit einer Einordnung.
Am Mittwoch hat die CDU in einem Entschließungsantrag durch AfD-Stimmen eine Mehrheit bekommen. War das ein historischer Tag?
Dominik Rigoll: Ich tue mich generell schwer mit dem Adjektiv historisch, das nutzt sich sehr schnell ab. Doch auch ich als Historiker kenne nichts Vergleichbares in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es gab auch in der alten Bundesrepublik immer wieder Klüngeleien zwischen CDU, CSU und der radikalen Rechten – allerdings auf lokaler Ebene.
Aber auf Bundesebene und mit Ansage, das gab es noch nicht. Und
Konservative haben schon einmal Stimmen im rechten Lager gesammelt
Was ist damals passiert?
Die Bundespräsidentenwahl 1969, bei der am Ende Gustav Heinemann gewählt wurde. Damals hat ein CDU-Politiker, der auch in der Union rechts stand, vorher gesagt, er würde sich auch mit den Stimmen der NPD mitwählen lassen.
Er hat diese Stimmen dann wahrscheinlich bei der Wahl auch bekommen, insgesamt hatte Heinemann aber mehr Stimmen. Auch damals hat also jemand gesagt: Die Stimmen der Rechtsradikalen nehme ich für meine eigene Politik in Beschlag. Doch es gab einen entscheidenden Unterschied.
Welchen?
Damals war die CDU den Rechtsradikalen gegenüber in der Position der Stärke. Heute sind sie extrem in der Defensive, nicht nur aufgrund der Wahlerfolge der AfD in Deutschland, sondern auch international, mit einem Nationalisten im Weißen Haus. In so einem Kontext eine Kurswende zu vollziehen, scheint mir dann doch wirklich historisch, historisch blind.
Sind es jetzt erneut die Konservativen, die die Rechtsextremen unterschätzen?
Die Nazis wurden in der Weimarer Republik von vielen unterschätzt, nicht nur von den Konservativen. Aber Konservative haben am meisten als Steigbügelhalter, agiert. Denn die Hitler-Regierung ist 1933 mithilfe der DNVP, einer rechtskonservativen Partei, an die Macht gekommen.
Dem Ermächtigungsgesetz, das die Macht der NSDAP zementierte, haben die liberalen und katholischen Abgeordneten zugestimmt. Aber auch die Linken, die sich nicht einig waren, haben dadurch indirekt dazu beigetragen, dass es zu 1933 kam.
Was bedeutet der gestrige Tag für die Union?
Es scheint so, als dass Merz selbst geschockt war, dass es so passiert ist. Ich frage mich: War das jetzt vielleicht ein Weckruf? Besinnt er sich jetzt darauf, dass die CDU bei aller Offenheit nach rechts immer eine pro-europäische und anti-nationalistische Partei war?
Am Freitag kommt dann mit der Abstimmung über das Gesetzesvorhaben zur Zustromregulierung die Realpolitik?
So real ist die nicht – im Moment sieht es ja nicht danach aus, als würde das Gesetz im Bundesrat eine Mehrheit bekommen. Historisch betrachtet scheint mir anderes wichtiger: Die jetzigen Vorgänge könnten eine Zäsur in zweifacher Hinsicht gewesen sein.
Die eine Lesart: Es könnte ein Startschuss für eine Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Parteien gewesen sein. Man könnte sagen: 'Merz ziert sich im Moment vielleicht noch, aber jetzt bahnt sich eine Zusammenarbeit an'. So liest es auch die AfD selbst – aus ihrer Sicht hat eine 'neue Epoche' begonnen, bei der sie die CDU 'führt' und diese folgt. Auch Linke, SPD und Grüne sehen einen Tabubruch, der früher oder später einer Koalition den Weg eröffnet hat.
Was wäre die andere Lesart?
Wenn die gestrige Abstimmung nicht dafür stand, dass sich CDU und AfD langsam aufeinander zubewegen, dann könnte es sein, dass wir in ein paar Jahren zurückblicken und sagen: Es war für die Union ein Weckruf. Vielleicht merkt sie jetzt, dass die AfD keine Partei wie jede andere ist.
Es ist keine Partei, auf die man sich im Zweifelsfall im parlamentarischen Betrieb verlassen kann, sondern eine nationalistische Kraft. Sie ist darauf aus, den parlamentarischen Betrieb kaputtzumachen, wie man an vielen Beispielen in Deutschland und ihren internationalen Verbündeten in den USA und Russland sieht.
CDU muss zurück zum "C" finden
Was müsste die Union aus diesem Weckruf schlussfolgern?
Sie muss eine demokratische Politik formulieren, die sehr konservativ, ja auch rechts sein kann, aber nicht die bloße Übernahme von Talking Points der AfD ist. Die beiden Kirchen – die CDU heißt schließlich christlich-demokratische Union – protestieren scharf sowohl gegen die Zusammenarbeit mit der AfD als auch gegen diese Vorlagen. Die CDU muss wenigstens für das C im Parteinamen sorgen und eine christliche, humanistische Politik machen.
Es geht also um eine stärkere Abgrenzung zur AfD?
Ja, aber nicht nur. Die CDU braucht etwas Positives, eine Politik der Nächstenliebe. Dafür stehen doch die christlichen Parteien und auch die Adenauer-CDU, die die Menschenwürde mit ins Grundgesetz geholt hat, als Erbe des Widerstands. Dadurch, dass die CDU der AfD so sehr hinterherhechelt, verliert sie dieses Erbe vollkommen aus dem Blick.
Es ist richtig, dass Adenauer und Strauß eine Politik gemacht haben, die nach rechts weit offen war. Aber es stand für diese beiden Spitzenpolitiker nie zur Disposition, mit rechtsextremen oder rechtsradikalen Parteien zusammenzuarbeiten. Die CDU muss sich wirklich gut überlegen, ob sie dieses Erbe jetzt aufgibt. Adenauer würde sich im Grab umdrehen.
Was würde er der Union jetzt raten?
Sie darf nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange starren und nur auf die Wähler der AfD gucken. Sie sollte auf die Nichtwähler und die Unentschiedenen zielen. Diese Gruppe liegt in den Umfragen noch vor der AfD. Da gibt es doch ein Potenzial, um das man kämpfen kann.
Das wäre auch in der Tradition der Adenauer-CDU und anderer Parteien der alten Bundesrepublik: Da gab es in den 1970er-Jahren Wahlbeteiligungen von über 90 Prozent!
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Haben Sie ein Beispiel für eine christliche Maßnahme?
Ja, die Verbesserung der medizinischen und psychologischen Betreuung von psychisch kranken Flüchtlingen. Das könnte leicht neben dem Kampf gegen Islamismus und Nationalismus passieren.
Das würde gegen Attacken wie in Magdeburg und Aschaffenburg helfen. Die Grenzen zu schließen, wird gegen die Attacken nicht helfen – es wäre ja schön, wenn es so wäre, aber es ist nicht so. Plus: Das Land braucht die Arbeitskräfte doch.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Dominik Rigoll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deutsche und französische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie "wehrhafte Demokratie", "gesellschaftlicher Zusammenhalt", Nationalismus und Antinationalismus.
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