Kevin Kühnert ist einer der Hoffnungsträger der SPD. Im Exklusiv-Interview kritisiert er Kanzlerin Angela Merkel hart und spricht über die Konsequenzen nach der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden. Zudem ruft er zu einem neuen Politik- und Debattenstil auf und erklärt, warum junge Menschen in Parteien eintreten sollten.

Ein Interview

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Mit einem Hashtag wurde er schlagartig in ganz Deutschland und darüber hinaus bekannt: Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, twitterte #NoGroKo und brachte Kanzlerin Angela Merkel damit um ein Haar zu Fall.

Seit seiner Wahl zum Chef der Jugendorganisation der SPD ist Kühnert das Gesicht der Gegner der großen Koalition. Gleichzeitig sehen viele inner- und außerhalb der Partei in ihm ein großes Versprechen der SPD. Als einer der wenigen führenden Köpfe der Genossen scheinen bei dem 29-Jährigen weder sein Gesicht noch seine Ansichten verbraucht.

Im Interview mit unserer Redaktion spricht Kühnert über seine persönliche Zukunft und lässt kein gutes Haar an der Politik der Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die Konsequenzen aus der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur neuen CDU-Vorsitzenden beobachtet er gespannt. Sollte AKK Merkel vorzeitig als Kanzlerin beerben, wäre das für Kühnert das Ende der großen Koalition.

Zudem wirbt der Fußballfan für einen anderen Politik- und Debattenstil: Die Zeit ausufernder Koalitionsverträge und starrer Mehrheiten würde er gern beenden. Gleichzeitig hält er ein Plädoyer, warum junge Menschen sich aktiv am Politikbetrieb beteiligen sollten.

Herr Kühnert, folgt die SPD dem Beispiel der CDU und Andrea Nahles beruft Sie demnächst zum Generalsekretär?

Kevin Kühnert: (lacht) Das wird so schnell nicht passieren. Ob Sie’s mir glauben oder nicht: Insbesondere mit unserem Generalsekretär Lars Klingbeil arbeite ich sehr gut zusammen, er bringt vieles in der Partei auf Vordermann, insofern möchte ich ihn nicht missen an der Stelle, wo er gerade ist.

Viele sehen in Ihnen den letzten Hoffnungsträger, was die personelle Zukunft der SPD angeht. Welches Amt streben Sie konkret an?

Man kann auch als Juso-Vorsitzender schon ganz ordentlich mitmischen, das hat das zurückliegende Jahr gezeigt. Wir erleben ja gerade einen großen Hype um die Grünen. Da will ich an der Stelle mal erinnern, dass sie weniger Mitglieder als die Jusos haben. (Es sind rund 10.000 Mitglieder weniger, Anm. d. Red.)

Ich habe nicht das Gefühl, dass es meinem Verband aktuell an Einfluss mangeln würde. Den muss man nur richtig einsetzen.

Ich bin jetzt ziemlich genau 13 Monate Juso-Vorsitzender und habe mich nicht in diese Position wählen lassen, um sie möglichst schnell wieder zu verlassen. Politische Bildungsarbeit für 80.000 Mitglieder zu machen ist nicht gerade eine Kleinigkeit.

Mit Ihrer #NoGroko-Kampagne hätten Sie 2017 die Bundeskanzlerin um ein Haar zu Fall gebracht. Was genau stört Sie an Frau Merkel?

Persönlich stört mich gar nicht so fürchterlich viel, wir sind uns auch noch nie begegnet. Das ist bestimmt eine nette, liebe Frau. Sie macht einen ganz lustigen Eindruck als Person und hat einen feinen Humor.

Das Problem, das ich mit ihr habe, ist ein politisches. Als Teil einer jüngeren Generation, die mit der Kanzlerin Merkel groß geworden ist, habe ich den Eindruck, dass die politische Debatte in Deutschland bei vielen Themen eingeschlafen ist.

Ist das Merkels Schuld?

Nun ja, die Person, die eigentlich den meisten Einfluss hat, Vorgaben und Vorschläge machen könnte, nämlich Frau Merkel, stiehlt sich aus dieser Rolle heraus.

Stattdessen beobachtet sie eher, was so passiert, bis sie sich irgendwann mal entscheidet, welche Position sie einnimmt. Das kann man ein paar Jahre machen, damit kann man auch Erfolg haben – das zeigt Frau Merkel ja -, aber für die politische Diskussion ist es Gift.

Warum?

Weil immer mehr Menschen das Gefühl haben, sie werden nicht gehört, sie finden gar nicht statt in der politischen Debatte, und dann darüber wütend werden.

Das fällt am Ende auf die Demokratie und die demokratischen Parteien insgesamt zurück. Da hat Frau Merkel, wenn sie mit ihrer Amtszeit fertig ist, eine große Hypothek hinterlassen für alle, die nach ihr kommen.

Annegret Kramp-Karrenbauer hat den CDU-Parteivorsitz von Angela Merkel übernommen. Inwieweit verändert diese Tatsache die Arbeit in der großen Koalition und die Situation der SPD?

Das beobachten wir natürlich auch gespannt. Viel knapper hätte das Ergebnis nicht ausfallen können. Sie ist die Vorsitzende von 52 Prozent der Mitglieder, und die anderen 48 Prozent muss sie erst noch überzeugen. Das wird eine große Herausforderung.

Ihr wurde unterstellt, sie sei ein Abklatsch von Angela Merkel. Sie hat das empört zurückgewiesen und muss nun den Gegenbeweis antreten. Viele erwarten, dass sie das durch ein besonders konservatives Profil tun wird.

Sollte sie das tatsächlich tun, dann kann das selbstverständlich zu deutlich mehr Konflikten in der Koalition führen.

Glauben Sie, die Kanzlerin wird bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 weitermachen?

Die Frage ist eher, ob die Koalition bis 2021 hält. Die SPD-Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag zugestimmt - in dem Wissen und unter der Bedingung, dass die Kanzlerin am Ende Angela Merkel heißt.

Sollte es einen Wechsel an der Spitze der Regierung geben, würde das auch die Geschäftsgrundlage ändern. Einen Kanzlerwechsel könnten die SPD-Abgeordneten im Bundestag nicht einfach so mittragen, sondern das würde bei uns zu größeren Diskussionen führen.

Wie würden diese Diskussionen ausgehen? Mit einem Bruch der Koalition?

Welches Interesse sollte die SPD haben, die nächste Kanzlerkandidatin der Union schon mal ein wenig im Amt trainieren zu lassen? In diesem Fall wären wir wohl wieder auf den Beginn des Jahres 2018 zurückgeworfen – alles zurück auf Start.

Kühnert: Darum kommen die SPD-Erfolge in der GroKo nicht an

Die SPD erntet nur selten die Lorbeeren für ihre politischen Erfolge in der GroKo. Wie wollen Sie dieses große Problem ändern?

Dafür braucht es eine grundlegend andere politische Atmosphäre. Wer möchte, dass die eigenen Erfolge in der Regierung stärker zum Vorschein kommen, muss dafür sorgen, dass die Nebengeräusche, die dieses Jahr geprägt haben, deutlich runtergefahren werden.

Ob es die Stilblüten der Asyl- und Migrationsdiskussion sind, ob es Personalthemen oder Nickligkeiten zwischen den Koalitionspartnern sind: Das alles vernebelt die eigene politische Leistung und bestätigt gängige Urteile über die Koalition.

Welchen Erfolg haben wir verpasst?

In einem friedlichen politischen Jahr, ohne die ganzen Aufregerthemen, wäre beispielsweise das "Gute-Kita-Gesetz" eine riesige politische Hausnummer gewesen. Fünf Milliarden werden in die Kinderbetreuung gegeben, darüber hätte das ganze Land gesprochen.

Das ist jetzt erkennbar nicht der Fall. Aber wer will es den Leuten verübeln, dass sie von diesen Gesetzesänderungen herzlich wenig mitbekommen, wenn sie nicht gerade fünf Tageszeitungen lesen.

Blicken wir auf 2019 voraus: Steigt die SPD nach einem zu erwartenden schlechten Ergebnis bei der Europawahl im Mai aus der Regierungskoalition aus?

Zuerst mal haben wir noch ein knappes halbes Jahr, um dafür zu arbeiten, dass es ein anständiges Ergebnis wird. Und gerade beim Thema Europa haben wir auch die Möglichkeit dazu.

Wir müssen den Leuten deutlich machen: Die Europawahl ist eine Schicksalswahl über die Zukunft des Friedensprojekts der Europäischen Union. Eine riesige Errungenschaft auf einem Kontinent, auf dem sich über Jahrhunderte bekriegt wurde.

Manche Leute wollen die Zeit zurückdrehen und dieses Projekt abwickeln – um nichts weniger geht es bei dieser Wahl. Die SPD hat sich immer zur EU bekannt und kann deshalb vielleicht sogar ein besseres Ergebnis erreichen, als es bei einer Bundestagswahl aktuell der Fall wäre.

Wäre der Gang in die Opposition nicht eine große Gefahr für die SPD?

Das war schon zu Anfang des Jahres ein Missverständnis, als es darum ging, ob wir in die große Koalition eintreten. Die Leute haben gedacht, es gebe nur die zwei Optionen: Regierung oder Opposition.

Wir plädieren dafür, dass die politische Welt ein paar mehr Grauschattierungen zu bieten hat. Ich hinterfrage ganz grundsätzlich, ob es noch zeitgemäß ist, Koalitionen für vier oder fünf Jahre abzuschließen, bei denen man wie in einer Art Gebrauchsanweisung minutiös auf 150 Seiten aufschreibt, was wie von wem mit welcher Mehrheit zu erledigen ist. Das politische Geschäft funktioniert heute zunehmend anders.

Wie denn?

Der aktuelle Koalitionsvertrag ist gerade mal ein dreiviertel Jahr alt, und wir haben jetzt schon ganz viele Themen auf der Tagesordnung, die in diesem Vertrag gar keine große Rolle gespielt haben.

Egal, ob es der Diesel-Skandal oder der UN-Migrationspakt ist: Die Antworten auf solche Fragen finden Sie nicht im Koalitionsvertrag, sondern sie müssen immer wieder neu verhandelt werden.

Wie genau soll das aussehen?

Ich würde mir wünschen, dass wir eine andere demokratische Selbstverständlichkeit in unseren Parlamenten bekommen, dass Koalition und Regierung sich auf die wesentlichen Themen verständigen, damit gewährleistet ist, dass der Laden läuft.

Dass man sich aber bewusst künftig Spielräume lässt, wo auch mal freie Mehrheiten gesucht werden. Dann heißt es nämlich nicht, dass man überhaupt nichts im Bundestag durchsetzen kann, wenn man nicht in der Regierung vertreten ist.

Die Qualität des Arguments soll also wieder stärker im Mittelpunkt stehen?

Absolut! Es schwärmen doch immer alle davon, wenn wir im Bundestag mal diese großen ethischen Debatten haben, beispielsweise zum Thema Sterbehilfe, wo über die Fraktionsgrenzen hinweg abgestimmt und ein Gesetzesvorhaben erarbeitet werden kann.

Das geht natürlich nicht bei jedem Thema. Eine große Rentenform sollten Sie nicht mit freien Mehrheiten organisieren. Aber man könnte das schon häufiger zulassen, wenn es etwa um Waffenexporte oder Ähnliches geht.

Die Debatten im Bundestag wären spannender und würden auch von mehr Menschen verfolgt werden, wenn nicht schon vorher bei jeder kleinen Sachfrage klar wäre, welche Mehrheit das jetzt durchstimmt, sondern wenn es einen Wettstreit um das bessere Argument gäbe.

"Nein zum permanenten Hecheln nach ein bisschen Zustimmung"

Auf Twitter rufen Sie Ihre Genossen dazu auf, nicht bei jeder Umfrage zu hyperventilieren, sondern stattdessen eigenen Überzeugungen zu folgen und durchzuatmen. Was bezwecken Sie damit?

Das zielt auf den Wert von Umfragen ab. Umfragen sind unglaublich prägend für die politische Arbeit, und ich glaube, dass dadurch viel Qualität in der politischen Diskussion kaputtgemacht wird.

Es gibt in jeder Partei Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs. Wenn sich der eingeschlagene Kurs nicht nach zwei oder drei Wochen in den Umfragen niederschlägt, wird dies sofort dazu benutzt zu sagen: "Seht her, es hat sich nicht ausgezahlt." Aber das verkennt, wie Politik funktioniert.

Inwiefern?

Die Leute sitzen ja nicht zuhause mit einem Abstimmungsgerät und warten darauf, was Andrea Nahles oder Angela Merkel sagen, um dann anschließend ihre politische Präferenz zu ändern. Die Menschen wollen sehen, ob man es ernst meint, ob man langfristige Konzepte hat für das, was man in der Gesellschaft ändern will.

Dafür braucht man Zeit und Überzeugungen und gerade nicht dieses permanente Hecheln nach ein bisschen Zustimmung. Selbst wenn es mal einen Prozentpunkt nach oben geht: Viele führen sich gar nicht vor Augen, dass das im Bereich statistischer Fehler liegt.

Wir sind viel zu fixiert auf solche Werte und hören zu wenig darauf, was die eigene Überzeugung, das Bauchgefühl oder das persönliche Umfeld sagt. Da würde ich uns ein bisschen mehr Gelassenheit wünschen.

Ist das auch ein Grund dafür, dass sich viele junge Leute von der Parteipolitik abwenden?

Ja, Parteien sind nicht unbedingt der Ort der Wahl, wenn es darum geht, sich politisch zu engagieren. Viele orientieren sich eher in Richtung von Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace oder Amnesty, wo man ganz konkret an einer Sachfrage arbeiten kann. Ich freue mich über jeden, der sich auf diese Art und Weise engagiert.

Aber?

Für eine funktionierende Demokratie braucht es auch ausreichend viele Menschen, die sich langfristig engagieren. Die in unseren Parlamenten, vor allem auch in den Kommunalparlamenten, sitzen und dort langfristig Verantwortung übernehmen.

Dort wird immer noch der Hauptteil unseres Zusammenlebens geregelt. Und wenn der überwältigende Teil der jungen Leute keine Ambitionen hat, dort mitzuwirken, heißt das ja nicht, dass Plätze leer bleiben. Dann wird Politik weiter vor allem von Älteren gemacht, von wohl situierten Leuten.

Da wünsche ich mir mehr Mut und Selbstbewusstsein bei jungen Menschen zu sagen: "Uns steht ein gleicher Anteil an der politischen Gestaltungsmacht zu, den streben wir an." Und dafür muss man dann vielleicht auch mal in eine Partei eintreten.

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