Wütende Genossen, drohende Rebellion in NRW, hektische Anrufe, dann ein Brief. Es sind Tage, wie sie die Politik der Bundesrepublik selten erlebt. Während die AfD in den Umfragen steigt, droht die große Koalition am Fall Maaßen zu zerbrechen. Eine Rekonstruktion.
Angela Merkel gab sich zunächst optimistisch. Sie sagte, "dass die Koalition an der Frage des Präsidenten einer nachgeordneten Behörde nicht zerbrechen wird". Doch dass sie dies bei einer Auslandsreise in Litauen kundtun musste, zeigte bereits die große Nervosität. Nun wäre es fast anders gekommen, das hätte auch das abrupte Ende der Kanzlerschaft
Die Causa des bisherigen Präsidenten des Verfassungsschutzes,
So kam es zum Brief
Die Vorgeschichte:
Donnerstag, 08.50 Uhr: Aus Protest gegen die Linie der SPD tritt der Oberbürgermeister des sächsischen Freiberg, Sven Krüger, aus der Partei aus: "Schaut man diese Tage nach Berlin, drückt das Wort "Fremdschämen" nicht einmal ansatzweise aus, was ich derzeit empfinde", schreibt er bei Facebook empört zur Begründung. Er ist nur einer von vielen. An der Basis brodelt es, im Postfach von Generalsekretär Lars Klingbeil gehen ohne Ende Protestmails ein, ein Genosse drückte schon am Vortag dem vor der Parteizentrale rauchenden Juso-Chef Kevin Kühnert ein Austrittsschreiben in die Hand.
Nahles muss ihre Linie ändern
Donnerstag, gegen 18.00 Uhr: Nahles unterbricht ihre zweitägige Wahlkampftour in Bayern. Ein Termin am Abend in der Reichswaldhalle Feucht wird abgesagt und sie reist nach Berlin. Nahles ist klar, dass eine Augen-zu-und-durch-Linie nicht mehr zur halten ist.
Donnerstag, 21 Uhr, Willy-Brandt-Haus: Die engere SPD-Führung sitzt bei einem Krisentreffen zusammen, Nahles' Stellvertreter wie Manuela Schwesig (Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommern) sind ohnehin wegen der Bundesratssitzung am nächsten Morgen in der Stadt. SPD-Spitzenpolitiker berichten von der Stimmung bei ihren Fahrern, die für die Politiker oft Seismographen des Volkes sind. Die Fahrer seien empört, dass Maaßen sogar noch finanziell belohnt werden solle und mit der B11-Stufe 14 157 Euro im Monat bekommen würde. Jemand werde für ungeeignet gehalten, habe sich gegen Teile der Regierung gestellt und bekomme dafür fast 3000 Euro mehr. Nahles unterbreitet von sich aus den Vorschlag, auf Merkel und Seehofer mit der Bitte um eine Neuverhandlung zuzugehen.
Freitag, 07.00 Uhr: Nahles sitzt im Flieger nach München, von dort geht es Richtung Nürnberg. Erneut Wahlkampf für die bayerische Landtagswahl am 14. Oktober, wo die SPD hinter CSU, Grünen und AfD nur auf Platz vier landen könnte. Die Gedanken sind woanders. Viele Telefonate, der Druck auf die erst im April gewählte erste Frau an der Spitze der ältesten Partei Deutschlands wächst stündlich. Die Idee eines Briefes verfestigt sich, er wird intern abgestimmt.
Neuverhandlungen werden gefordert
Unterdessen plant die nordrhein-westfälische SPD einen Antrag, darin heißt es: "Der Koalitionsausschuss muss sich die Frage der weiteren Verwendung des Beamten Hans-Georg Maaßen ein weiteres Mal vorlegen und sie im Lichte der Debatten der vergangenen Tage neu bewerten." NRW ist der mit Abstand größte Landesverband, er verhinderte schon fast den Eintritt in die Koalition. Spätestens da scheint klar: der Maaßen-Deal wird platzen - oder die Koalition.
Freitag, 13 Uhr: Wohngipfel im Kanzleramt, mit Merkel und Seehofer. Bei einer Pressekonferenz mit Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) versprechen sie eine Wohnraumoffensive, 1,5 Millionen Wohnungen sind das Ziel, die steigenden Kosten sind die neue soziale Frage. Die Mieten bewegen viele Bürger sicher mehr als Maaßen. Kein Wort zu der Causa Maaßen an sich. Aber Merkel und Seehofer sprechen am Rande der Veranstaltung im Kanzleramt darüber, dass es bei der SPD brodelt, das laufe so nicht, man müsse was tun. Die CSU liegt in Bayern nur bei 35 Prozent, ein Zerbrechen der Koalition kurz vor der Wahl kann keiner wollen - es würde wohl nur der AfD nutzen.
Freitag, 15.30 Uhr: Nahles hat die Diskussionsveranstaltung "Gute Pflege" im Gemeindehaus St. Georgen in Bayreuth zügig verlassen. Sie hat von Bayern aus mit Merkel und Seehofer telefoniert, die im Kanzleramt zusammensitzen, und beiden den Brief angekündigt. Auch in der Union rumort es, die Reaktionen verheerend. Aber wer soll nach Nahles nun das Gesicht verlieren? Seehofer? Wenn Maaßen von sich aus aus Verantwortung für das Land sich zurückziehen würde, wäre der Fall einfach zu lösen, wird immer wieder intern betont.
Freitag, gegen 15.40 Uhr: Der Brief geht per Mail an Merkel und Seehofer. Und in Kopie an die Mitglieder des SPD-Präsidiums, die sich zuvor nicht vernünftig eingebunden fühlten. Erste Reaktionen aus der SPD: Großer Respekt für Nahles, sie stand auch persönlich am Abgrund und rettet sich vorerst. Es ist ungewöhnlich in der Politik, dass Fehler so deutlich eingeräumt werden. "Die durchweg negativen Reaktionen aus der Bevölkerung zeigen, dass wir uns geirrt haben. Wir haben Vertrauen verloren, statt es wiederherzustellen", schreibt Nahles. "Dies sollte Anlass für uns gemeinsam sein, innezuhalten und die Verabredung zu überdenken."
Alles zurück auf los
Freitag, 16.25 Uhr: Nun müssen Seehofer und Merkel öffentlich die Neuverhandlung noch bestätigen. "Ich denke, eine erneute Beratung macht dann Sinn, wenn eine konsensuale Lösung möglich ist. Darüber wird jetzt nachgedacht", sagt Seehofer der Deutschen Presse-Agentur - die zweite dpa-Eilmeldung des Tages zum Fall Maaßen. Die drei Parteivorsitzenden hätten auch miteinander am Telefon gesprochen. Wenig später teilt Regierungssprecher Steffen Seibert mit: "Die Bundeskanzlerin findet es richtig und angebracht, die anstehenden Fragen erneut zu bewerten und eine gemeinsame tragfähige Lösung zu finden". Damit ist klar: Alles zurück auf Los. Was Maaßen denkt?
Freitag, 19.30 Uhr: Auch Merkel ist nun im bayerischen Wahlkampf unterwegs, in München sagt sie, man wolle bereits "im Laufe des Wochenendes" eine "gemeinsame, tragfähige Lösung" finden. Der enorme Druck, auch Zeitdruck, war auch deshalb entstanden, weil am Montag der 45-köpfige SPD-Vorstand in Berlin zusammenkommt. Ohne Neuverhandlung drohte hier eine unkalkulierbare Situation. Daher die Notbremse. Aber wenn die zweite Lösung nicht passt, könnte die Situation sich statt zu entspannen, endgültig zum Bruch führen.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer schreibt unterdessen zum zweiten Mal binnen drei Tagen an ihre Mitglieder. Die jetzt anstehenden Gespräche sollten aus Sicht der CDU genutzt werden, "um zu klären, ob sich alle Koalitionsparteien weiter hinter dem gemeinsamen Auftrag versammeln können." Man müsse in der Lage und willens sein, sich um das zu kümmern, was den Menschen wirklich am Herzen liege. "Hierin liegt die Chance der anstehenden Gespräche. Aber diese Chance müssen wir jetzt auch ergreifen." © dpa
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