Ein mäßig gelaunter Markus Söder verteidigt per Fernschalte ins "Anne Will"-Studio seinen Alleingang – und empfiehlt in der Coronakrise zu Hause zu bleiben, hoffen und beten. Danach ist den Zuschauern auch zumute nach den eindrücklichen Warnungen einer Krankenhaus-Ärztin.

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Wer sehen wollte, wie das mit dem Kontaktverbot funktionieren kann in den nächsten einsamen Wochen, hat bei "Anne Will" am Sonntagabend hervorragendes Anschauungsmaterial bekommen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ließ sich aus München zuschalten, motzte seine Gesprächspartnerin an und verabschiedete sich schnell wieder. Vorbildliches "Social Distancing".

Leider wurde aber auch schmerzhaft klar, welche riesigen Probleme in den nächsten Wochen noch auf Deutschland zukommen.

Was ist das Thema bei "Anne Will"?

SARS-CoV-2 macht nicht alle gleich, aber doch viele: Angela Merkel hat sich zur Sicherheit in häusliche Quarantäne begeben, die Bundeskanzlerin muss wie so viele Deutsche in den eigenen vier Wänden der Dinge harren.

Genug Zeit also, sich mit dem Thema der Stunde zu beschäftigen: "Deutschland im Ausnahmezustand – gewinnen wir den Kampf gegen das Coronavirus?"

Wer sind die Gäste?

Bernadett Erdmann, Chefärztin der Notaufnahme im Klinikum Wolfsburg, nennt den Erlass des Kontaktverbots "die richtige Entscheidung". Nur: "Ich fürchte, sie ist zu spät gekommen."

Virologin Melanie Brinkmann rechnet mit Erfolgen. Allerdings seien sich die Experten auch wegen fehlender Daten nicht einig, wie lange die Maßnahmen aufrechterhalten werden müssten. "Wir können keine klaren Empfehlungen geben."

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) muss erst einmal Bedenken aus dem Weg räumen: Nein, er müsste nicht eigentlich in Quarantäne sein, er hat die Kanzlerin seit ihrem folgenreichen Besuch beim Arzt nicht mehr gesehen.

Wie lange das Kontaktverbot bleiben soll, will Braun nicht sagen: "Wir schauen: Wie flach ist die Infektionskurve? Und leiten ab, wie gefordert das Gesundheitssystem in 6, 8, 12 Wochen ist."

Der Polizei-Gewerkschafter Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter lobt den Beschluss, weil er die "Unsicherheit" in der Bevölkerung und auch bei den Sicherheitskräften beende, was wo genau erlaubt sei: "Jetzt weiß die Bevölkerung Bescheid und die Polizei auch."

Andere Unsicherheiten werden bleiben, betont Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU). "Man darf den Menschen nichts vormachen, wir stehen noch am Anfang der Krise".

Zwar stellen sein Land und der Bund den Menschen wirtschaftliche Hilfen in Aussicht, aber: "Die Entscheidungen werden neue Probleme schaffen. Wie in einer OP: Manchmal geht der Patient gefühlt gesünder rein als raus."

Und dann war da noch Markus Söder ...

Was ist das Rede-Duell des Abends bei "Anne Will"?

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – diesem aber nicht. Schon die erste Frage von Will ("Wollen Sie einfach der härteste Corona-Bekämpfer sein?") passte Söder überhaupt nicht.

Söder hatte ja am Freitag schon in einem Alleingang Ausgangsbeschränkungen im Freistaat verhängt, obwohl Bund und Länder die Lage am Wochenende noch einmal evaluieren wollten. Die Vorwürfe, er sei "vorgeprescht", drehte Söder um: Deutschland dürfe in Europa keinen "Sonderweg" einschlagen, er habe nur getan, was die Nachbarländer auch tun.

Über den Streit mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in einer Telefonkonferenz von Bund und Ländern war am Sonntag schon berichtet worden, Anne Will wollte Genaueres erfahren, verärgerte Söder damit aber nur noch mehr.

"Zerstritten" seien die Länder nicht, es gehe aber um "tiefernste Sachen, um Leben und Tod", da sei es klar, dass jeder überlege, was richtig ist.

"Die Lage ist ernster, als viele glauben". So ernst, dass Söder sogar sagte, man könne nur hoffen, dass es nicht so schlimm werde wie in Italien - "oder, wenn sie gläubig sind, beten."

"Aber hat Laschet sich nun durchgesetzt?", versucht Will nachzuhaken, kommt aber nicht weit. "Finden Sie es der Sache angemessen, zu fragen, wer setzt sich mehr oder weniger durch?" Auch wenn Söder den TV-Politik-Journalismus und seine Mechanismen gut genug kennt, um sich das selbst zu beantworten: eine gute Frage.

Was ist der Moment des Abends?

Vielleicht wollte Anne Will sich endlich mal wieder auf ein leichtes Thema stürzen, so ein herrlich unwichtiges Gegockel zwischen zwei Ministerpräsidenten lenkt für einen Augenblick ab von der Tatsache, dass wir, wie Tobias Hans es ausdrückte, "erst am Beginn" einer Pandemie stehen, deren Ausmaße wir nicht ansatzweise vorhersehen können.

Ein Grund, warum sich auf Facebook, YouTube und WhatsApp ein hochinfektiöses Gemisch aus Gerüchten, Fake News und Verschwörungstheorien verbreitet. Gut, dass bei "Anne Will" seriöse Informationen aus erster Hand von Krankenhaus-Mitarbeiterin Bernadett Erdmann zu hören waren.

Weniger gut, was die Chefin der Notaufnahme zu sagen hatte: "Ich befürchte, dass wir in wenigen Wochen vor einem Kollaps stehen. Wenn die Zahlen so steigen, wie von den Epidemiologen und Virologen vorhergesagt, dann werden wir das nicht schultern können."

Vor allem fehle es an Personal, ihr Krankenhaus habe aber auch schon jetzt keine Schutzkleidung mehr, die Reserve reiche noch für eine Woche, Bestellungen kämen nicht an. Der Grund: Lieferungen bleiben an der Grenze stecken, die Schutzkleidung ist enorm teuer geworden. "Da ist die Politik gefordert."

Als wären das nicht genug Probleme, stehen mit einer Quasi-Ausgangssperre noch ein paar weitere vor der Krankenhaustür, über die noch kaum diskutiert wird: "Wir rechnen mit mehr Suiziden und mehr häuslicher Gewalt."

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Und wieder sind die Österreicher einen Schritt weiter: Vor einer Woche standen die Stühle bei "Anne Will" noch recht nahe beieinander, wo sie im ORF-"Im Zentrum" schon zwei Meter Sicherheitsabstand zwischen den Gästen wahrten.

An diesem Sonntagabend zog Will nach - während die Wiener Kollegen komplett auf Besuch im Studio verzichteten und die ganze Runde per Schalte zusammenbrachte. Ob Will wohl nächste Woche nachzieht?

Was ist das Ergebnis?

Italien, normalerweise das Sehnsuchtsland der Deutschen, ist zu einem Code für das Horrorszenario in der Corona-Pandemie geworden. Markus Söder will die "schrecklichen" Zustände hierzulande unbedingt vermeiden.

Ob es so schlimm kommt, vermag Ärztin Bernadett Erdmann nicht zu sagen: "Das wäre der Blick in die Glaskugel. Aber wenn wir nicht damit rechnen würden, würden wir nicht gerade unser Krankenhaus herunterfahren."

Herunterfahren bedeutet: Alles absagen, was nicht lebensnotwendig ist, damit die Klinik gerüstet ist, wenn es losgehen sollte. Dafür brauche es aber vor allem Schutzausstattung: "Ein Feuerwehrmann geht auch nicht ohne Ausrüstung in ein brennendes Haus."

Wie lange es dauert, bis ein Impfstoff den Durchbruch bringt, kann und will Virologin Brinkmann nicht sagen, alles unter einem Jahr hält sie allerdings für unrealistisch. Ob die Maßnahmen also 18 Monate dauern müssen, wie eine Studie aus London nahelegt?

"Das würden die Leute nicht tolerieren", sagt Erdmann, auch Brinkmann glaubt nicht, dass es durchzuhalten ist – wohl aber müsse man die Risikogruppen langfristig schützen. "Für die können wir das nicht lockern." Müssen also Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen im Zweifel länger mit den Kontaktverboten leben als Jüngere?

Kanzleramtsminister Braun versucht, zu beruhigen: "Diese Zahl von 18 Monaten, das irritiert und verängstigt Menschen. Bis eine Epidemie ein Land verlässt, das dauert lange, aber die Maßnahmen sind auf kürzere Frist angelegt."

Erst einmal 2 Wochen, dann kontrollieren, so lautet jetzt das Motto. Und: "Nerven bewahren, nicht den Gerüchten glauben und die Anweisungen befolgen." Das fällt schwer, nach so vielen schlechten Aussichten in nur 60 Minuten.

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