Ist die Coronakrise etwa schon überwunden? Die Gäste von Maybrit Illner geizen nicht mit Lob und Aufmunterung. Die Journalistin Nguyen-Kim warnt jedoch: "Es wird neue Ausbrüche geben."

Eine Kritik
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Würde Deutschland ein Wort der Woche suchen, hätten die "Öffnungsdiskussionsorgien" wohl die besten Karten. Angela Merkel soll vor diesen Orgien am Montag in der CDU/CSU-Fraktion gewarnt haben: Die Kanzlerin ist offenbar nicht begeistert, dass derzeit über weitere Lockerungen des Lockdowns zur Bekämpfung des Coronavirus diskutiert wird.

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Dürfen wir wieder mehr Normalität wagen? Oder verspielt Deutschland gerade seine Erfolge in der Eindämmung des Virus? Diese Frage stand am Donnerstagabend auch bei Maybrit Illner im Mittelpunkt.

Wer sind die Gäste bei Maybrit Illner?

Cem Özdemir: Der Grünen-Politiker war selbst an COVID-19 erkrankt. Die Erkrankung sei bei ihm mild und atypisch verlaufen. Der Bundestagsabgeordnete hält daher nichts von schnellen Schlussfolgerungen jeder Art: "Die Erkenntnisse ändern sich ständig. Das sollte uns demütig machen mit umfassenden Aussagen über das, was in Zukunft passiert."

Mai Thi Nguyen-Kim: Die Wissenschaftsjournalistin warnt vor Nachlässigkeit. "Es wird wieder neue Ausbrüche geben, es wird dann zwangsläufig neue Lockdowns geben." Besser fände sie es, an den starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens noch ein bisschen festzuhalten: Das verschaffe Gesellschaft und Wirtschaft später wieder mehr Freiheiten.

Hendrik Streeck: Der Virologe an der Universität Bonn hat mit einer umstrittenen Studie im besonders betroffenen Kreis Heinsberg für Aufsehen gesorgt. Aus ihr ist herauszulesen, dass es möglich sein könnte, wieder mehr öffentliches Leben zuzulassen. Die aktuelle Situation sieht Streeck offenbar eher kritisch: "Wir haben einen sehr schnellen Lockdown gemacht, ohne nachvollziehen zu können, was eigentlich welcher Schritt gebracht hat."

Malu Dreyer: Von Merkels Vorwurf der "Öffnungsdiskussionsorgien" fühlt sich die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz (SPD) nicht angesprochen: Die Bundesländer würden gerade umsetzen, was sie zusammen mit dem Bund beschlossen haben. "Wir glauben, dass es richtig ist, Schritt für Schritt zu kleinen Lockerungen zu kommen."

Herbert Diess: Der VW-Vorstandsvorsitzende gibt sich in der Sendung zuversichtlich. Zwei Milliarden Euro pro Woche soll der Lockdown den Autokonzern zwar kosten – jetzt aber wird die Produktion wieder angefahren. Mit Mundschutz und entzerrten Schichten für die Mitarbeiter. "Wir sind sehr gut vorbereitet", sagt Diess.

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Was ist das Rededuell des Abends?

Die einzige Meinungsverschiedenheit in einer sehr sachlichen, konzentrierten Runde tragen Mai Thi Nguyen-Kim und Hendrik Streeck aus. Die Naturwissenschaftlerin stört sich vor allem an Streecks Satz, man müsse jetzt lernen "mit dem Virus zu leben".

"Wir müssen mit dem Virus leben, wenn wir es nicht schaffen, jetzt die Infektionszahlen weiter zu senken", sagte Streeck. Dieser Zug sei aber noch nicht abgefahren: "Wir sollten es unbedingt versuchen", meint Nguyen-Kim.

Auch zu Streecks Heinsberg-Studie hat die Wissenschaftsjournalistin kritische Fragen: Sie bezweifelt unter anderem, dass sich aus ihr schlussfolgern lässt: Vor allem eine gute Hygiene beeinflusse die Ausbreitung des Virus und die Schwere der Krankheitsverläufe.

Streeck hat in den vergangenen Tagen schon viel Kritik an seiner Studie einstecken müssen. Auch bei Maybrit Illner verteidigt er sich und das gesamte 80-köpfige Team. Die Zwischenergebnisse habe man "sehr genau und sehr bedacht" auf zwei Seiten zusammengeschrieben. Der Experte macht auch keinen Hehl daraus, dass er hier der Fachmann ist: "Als Facharzt für Virologie hat man sehr viel mit Viren zu tun."

Streeck jedenfalls bleibt bei seinen zentralen Aussagen: "Das Virus ist weltweit heimisch geworden. Wir werden lernen müssen damit umzugehen." Eine gute Hygiene spielt dafür nach seiner Meinung eine zentrale Rolle: Sie könne verhindern, dass der Körper eine zu große Menge des Virus abbekommt.

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Was ist das Ergebnis bei Maybrit Illner?

Zu Beginn des Lockdowns im März war der Schrecken über die Ausnahmesituation auch in den Polit-Talkshows spürbar, in den vergangenen Wochen kehrte dann der Streit über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen zurück. Diese Sendung gleicht eher einer Atempause im Corona-Stress. Es gibt sogar einige positive Botschaften.

Malu Dreyer lobt die Politik – also auch sich selbst – für die Weichenstellungen. Cem Özdemir sagt: "Die liberale Demokratie zeigt gerade, was sie kann." Der Virologe Streeck wiederum macht Hoffnung, dass sich die Ausbreitung des Virus im Sommer weiter verlangsamen könnte. Studien aus den USA und Erfahrungen aus Australien würde das vermuten lassen.

Sind wir schon über den Berg oder nicht?

Zur Abwechslung gehen viele Zuschauer also möglicherweise nicht ganz niedergeschlagen ins Bett. Allerdings bleibt auch ein schaler Beigeschmack angesichts von so viel Lob und Aufmunterung. "Wir können in Deutschland stolz darauf sein, was wir erreicht haben", sagt VW-Chef Herbert Diess. "Das ist eine Hochleistung unseres Gesundheitssystems gewesen", findet Ministerpräsidentin Dreyer. Das klingt fast so, als sei das Land schon über den Berg. Dabei betonen alle Experten, dass die Pandemie noch an ihrem Anfang steht.

Wie lange sie noch dauern wird? Natürlich kann das auch an diesem Abend niemand sagen. Auf die Frage, wann es einen Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus geben könnte, hat Virologe Streeck eine deutliche Antwort: "Jede Vorhersage ist unseriös, weil wir es einfach nicht wissen." Leben müssen wir eben weiterhin nicht nur mit dem Virus – sondern auch mit viel Unsicherheit.

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