• Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk gehört zu den derzeit prominentesten Vertretern seines Landes.
  • Immer wieder fällt der Diplomat allerdings mit seinem provokanten Ton auf.
  • Für Politikwissenschaftler Johannes Varwick spiegelt sich in seiner Figur die Verrohung im Krieg in der Ukraine wider.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Der derzeit wohl bekannteste Diplomat in Deutschland heißt Andrij Melnyk. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine Ende Februar steht der Botschafter neben Präsident Wolodymyr Selenskyj im medialen Fokus – teils umstritten. Immer wieder fällt der 46-Jährige, der häufiger Gast in Talkshows ist, durch einen ungewöhnlich undiplomatischen Ton auf.

Die deutsche Russlandpolitik bezeichnete Melnyk jüngst als Katastrophe, die aufgearbeitet werden muss, besonders harsche Kritik formulierte er in Richtung Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der habe ein "Spinnennetz von Kontakten" nach Russland geknüpft, das noch heute in der Regierung wirksam sei. Im Interview mit dem "Tagesspiegel" polterte der Botschafter: "Feingefühl ist für Steinmeier ein Fremdwort, zumindest in Bezug auf die Ukraine."

Melnyk: Russlandpolitik "bleibt ewige Schande"

Das Verhältnis zu Russland sei für Steinmeier etwas "Heiliges". Der amtierende Bundespräsident sah sich zumindest genötigt, Fehler einzugestehen: "Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben", gab Steinmeier im "Bericht aus Berlin" zu. Die Gasleitung Nord Stream 2 noch unterstützt zu haben, als er schon Bundespräsident war, sei ein Fehler gewesen.

Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bekam sein Fett weg. Nachdem dieser davor gewarnt hatte, in der Ukraine zur Kriegspartei zu werden und die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland betont hatte, bezichtigte Melnyk ihn, mit "Kumpelchen Putin" zu kuscheln. "Ihre unverschämte Anbiederung an diesen Kriegsverbrecher bleibt eine ewige Schande", schrieb er bei Twitter.

Experte Varwick über Melnyk: "Verständliche Verzweiflung"

Auch nach den mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Butscha legte der Botschafter einen Finger in wunde Punkte Deutschlands. Er twitterte: "Wirtschaft. Wirtschaft. Über alles. Wohlstand. Über alles. Moral. Anstand. Historische Verantwortung? Fehlanzeige." Und fragte: "Liebe Bundesregierung, wie lange noch zusehen?"

Macht Melnyk das zum Störenfried oder verschafft es ihm notwendige Autorität in Deutschland? Feststeht jedenfalls, dass er die deutsche Politik provoziert. "Botschafter Melnyk treibt in erster Linie verständliche Verzweiflung um", kommentiert Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Gespräch mit unserer Redaktion.

Melnyk versuche mit allen Mitteln, seinem Volk zu helfen. "Seine Methoden sind unkonventionell, in Teilen ungebührlich – aber am Ende nachvollziehbar", sag der Experte.

Das ist das Ziel hinter Melnyks Scharfmacherei

Verständnis erntet Melnyk, der in seiner Geburtsstadt Lwiw sowie in Kiew, Harvard und Lund Rechtswissenschaften studierte, in Deutschland tatsächlich auf breiter Front. "Schließlich sind seine Landsleute unvorstellbar grausamen Angriffen ausgesetzt", sagt Varwick.

Aus dem Rahmen fiel dabei nur Sören Bartol, Staatssekretär im SPD-geführten Bauministerium. In einem inzwischen gelöschten Tweet bezeichnete er Melnyk als Botschafter in Anführungszeichen und als "unerträglich".

Was hinter der Scharfmacherei steckt, liegt für Varwick auf der Hand: "Deutschland soll mehr für die Ukraine tun", sagt er. Dabei gehe es sowohl um umfassendere Waffenlieferungen als auch um ein Energie-Embargo. "Gleichzeitig will er die Öffentlichkeit aufrütteln", sagt der Experte.

Erfahrung auf diplomatischem Parkett

Üblicherweise würden Diplomaten hinter verschlossenen Türen an Entscheidungsträger herantreten. Aus Melnyks Sicht erscheine das aber nicht erfolgsversprechend. "Deshalb betreibt er eine Public Diplomacy", sagt Varwick - also eine öffentliche Diplomatie. Dabei wisse der Botschafter, dass er in Deutschland nicht mit demselben Gegenwind zu rechnen hat und die deutsche Politik sehr auf ihre Wortwahl bedacht sein muss.

Melnyk ist seit 2014 Botschafter in Deutschland, zuvor war er Generalkonsul in Hamburg. Politische Erfahrung hat der Ukrainer in der Vergangenheit allerhand gesammelt: Er war bereits stellvertretender Minister in der Ukraine, Berater im Präsidialamt und Abteilungsleiter im ukrainischen Außenministerium.

Auch als Sekretär an der Botschaft der Ukraine in Österreich war Melnyk schon tätig. Diplomatisches Parkett ist für den 46-Jährigen also kein Neuland.

In der Vergangenheit angeeckt

Varwick beobachtet allerdings eine Veränderung des Botschafters: "Seit er in Deutschland war, habe ich ihn stets als seriösen, kompetenten und feingeistigen Vertreter der Ukraine wahrgenommen. Im Krieg hat er dann eine falsche Abbiegung genommen."

An der Person Melnyks könne man die Verrohung im Krieg in der Ukraine gut nachvollziehen. "Die zunehmende Radikalisierung in der Sprache, im Denken und im Handeln spiegelt den Fortlauf des Krieges wider", analysiert Varwick.

Angeeckt ist der ukrainische Botschafter allerdings schon in der Vergangenheit: 2015 sorgte Melnyk für Unmut im Bundestag, als er auf Twitter seinen Besuch am Grab des Partisanenführers und NS-Kollaborateurs Stepan Bandera in München publik machte. Melnyk bezeichnete den ukrainischen Nationalisten, der im Zweiten Weltkrieg mit der Wehrmacht zusammenarbeitete und als Kriegsverbrecher gilt, zudem als "unseren Helden".

Auch im Januar 2022 wurde Melnyks Ton als unangebracht wahrgenommen. Nachdem der Ex-Marine-Inspekteur Kay-Achim Schönbach gesagt hatte, die Krim sei "weg", werde "nicht zurückkommen" und über Putin gesagt hatte: "Er will Respekt. Und – mein Gott – jemandem Respekt entgegenzubringen, kostet wenig, kostet nichts", reagierte Melnyk mit einem Vergleich zum Nationalsozialismus.

Experte: Melnyk überspannt den Bogen

"Die Ukrainer fühlten sich bei dieser herablassenden Attitüde unbewusst auch an die Schrecken der Nazi-Besatzung erinnert, als die Ukrainer als Untermenschen behandelt wurden", sagte er und attestierte "deutsche Arroganz und Größenwahn" in der Bundeswehr.

Aus Sicht von Experte Varwick überspannt Melnyk den Bogen nun aber aus Verzweiflung komplett. "Er disqualifiziert sich damit als Gesprächspartner", warnt er. Sein Ton sei nicht mehr nur undiplomatisch. "Wenn er Menschen beleidigt, ist das keine Basis für Kontakte", sagt Varwick.

Muss Balanceakt vollführen

Außerdem habe Melnyk Einzelheiten aus vertraulichen Gesprächen mit der Politik publik gemacht. "Das führt dazu, dass niemand mehr offen mit ihm spricht, sondern er eher als tragische Figur wahrgenommen wird", sagt Varwick.

Zwar steige seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, wenn er mit Worten um sich schlage, aber die Seriosität in der Politik sinke. "Melnyk muss diesen Balanceakt selbst abwägen. Aber wenn er am Ende in der deutschen Politik an Einfluss verliert, schadet er der Ukraine."

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Über den Experten: Prof. Dr. Johannes Varwick ist Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Johannes Varwick, Politikwissenschaftler
  • Botschaft der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland: Biographie von S.E. Dr. Andrij Melnyk, LL.M. (Stand 08.04.2022)
  • Twitter-Profil von Andrij Melnyk
  • Tagesspiegel.de: Ukraine-Botschafter rechnet mit Steinmeier ab – und fordert mehr schwere Waffen
  • Tagesschau.de: "Ich habe mich geirrt"
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