• Norbert Röttgen hat als Außenpolitiker viele Kontakte in die USA und zu europäischen Partnern.
  • Im Interview mit unserer Redaktion erläutert der CDU-Politiker, wie Deutschlands Handeln angesichts des russischen Krieges in der Ukraine in den USA beurteilt wird und warum die Amerikaner seiner Wertung nach etwas zu optimistisch auf die Gesamtsituation schauen.
  • Außerdem erklärt Röttgen, warum er einen Vorschlag des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi für den besten hält, um den Konflikt aufzulösen.
Ein Interview

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Herr Röttgen, Sie waren vor Kurzem auf einer Konferenz der Münchner Sicherheitskonferenz in Washington, haben dort auch Vertreter der amerikanischen Administration und des Senats getroffen. Wie beurteilen sie die Rolle und das Verhalten Deutschlands im Ukraine-Krieg?

Norbert Röttgen: Während bei Osteuropäern, den Balten, starke Enttäuschung über Deutschland vorherrschend ist, überwiegt bei den Amerikanern vor allem die Anerkennung der starken Veränderung, die es in Deutschland gibt. Sie sehen es positiv, dass sich Deutschland, gesellschaftlich wie politisch, in so kurzer Zeit so grundlegend verändert hat. Das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Die Amerikaner nehmen wahr, dass Deutschland jetzt anfängt, auch militärisch seinen Beitrag zu leisten. Natürlich wird auch die Zögerlichkeit des Bundeskanzlers und der Bundesregierung gesehen, aber das Positive überwiegt.

Und wie sehen die Amerikaner die Lage insgesamt rund um den russischen Krieg in der Ukraine?

Nach meiner Wertung ein wenig zu optimistisch. Bei aller Spaltung, die in den USA weiter besteht, die tief und wirklich hasserfüllt ist, ist der russische Krieg neben China das zweite große Thema parteiübergreifender Einigkeit. Die USA freuen sich über die neue Einigkeit des Westens, gleichzeitig sehen sie Russland in einer sehr schwachen Position. Aber noch ist der Krieg nicht gewonnen. In den USA wird der Krieg von vielen als Teil des allgemeinen geopolitischen Systemkonflikts zwischen Diktaturen und Demokratien gesehen. Das teile ich so nicht. Dieser Krieg ist mehr als ein Nebenschauplatz und hat seine eigene, von Putin ausgehende, Dynamik.

Soll Russland wirklich so stark geschwächt werden, dass ein solcher Überfall eines anderen Landes nicht mehr möglich sein soll, wie US-Verteidigungsminister Lloyd Austin es formulierte?

Mein Gefühl ist, dass auch in der Administration die allermeisten mit der Definition des Ziels durch den US-Verteidigungsminister nicht sehr glücklich sind. Eine solche Schwächung Russlands würde ja weit über die Abwehr des Krieges gegen die Ukraine hinausgehen. Ich halte das nicht für ein angemessenes Ziel und vor allem für keines, das man mit militärischen Mitteln verfolgen sollte. Aber die Frage der Zielsetzung stellt sich natürlich schon und ist nicht einfach. Ich habe Jake Sullivan, den nationalen Sicherheitsberater in Bidens Regierung, gefragt, wie sie dieses Ziel eigentlich definieren.

Was war seine Antwort?

Dass nicht wir, sondern maßgeblich die Ukraine darüber entscheidet, was ihre Ziele sind. Welche Ziele man selbst für sinnvoll erachtet, darüber herrscht eine gewisse Unsicherheit, die ich auch teile. Ganz sicher ist, dass Putin nicht gewinnen darf. Wenn es gelingt, den Zustand vom 23. Februar, also einen Tag vor Beginn der Invasion wiederherzustellen, wäre klar, dass Putin mit diesem Krieg nichts erreicht hat.

Starker Rubel trotz Sanktionen: Wie Putin die Währung manipuliert

Vor dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stürzte der Rubel ins Bodenlose. Trotz der westlichen Sanktionen, die Russlands Wirtschaft schwächen sollten, ist der Kurs der russischen Währung aber nun so stark wie seit 2017 nicht mehr. Wie kann das sein?

Und wenn die Ukraine auch die Krim und den Donbass zurückhaben will?

Wenn die militärischen Kräfteverhältnisse sich weiter so entwickeln, dass die Ukraine sich durchsetzen kann und einen vollständigen Rückzug Russlands von ukrainischem Territorium fordert, dann wäre das natürlich eine absolut gerechtfertigte Position. Kein Land muss die Verletzung der eigenen Souveränität akzeptieren. Gleichzeitig können wir jetzt noch nicht sagen, was das an weiteren Kriegsaktivitäten bedeuten würde und wie diese politisch zu bewerten wären. Wir müssen immer wieder abwägen zwischen berechtigter völkerrechtlicher Position und Deeskalation.

Wurde in Washington auch darüber diskutiert, wie ein möglicher "Notausgang" für Putin aussehen könnte?

Dieser Ansatz ist gescheitert. Die gesamte westliche Politik im Vorfeld des Krieges, und vor allem Deutschlands, zielte ja darauf ab, Putin die Hand zu reichen, damit er nicht eskaliert. Ein Regierungschef nach dem anderen saß an seinem absurd langen Tisch. Wahrscheinlich hat ihn das in seinen Zielen sogar noch bestärkt, weil er den Westen als schwach angesehen hat. Den Krieg hat das eher befördert.

Der Krieg wird also noch länger dauern?

Es gibt keine Anzeichen, dass Putin irgendwelche Abstriche davon macht, die Landkarte Europas neu definieren zu wollen und damit die russische imperiale Macht wieder herzustellen. Das bleiben seine Ziele.

Dann kann er sich aber nicht die Blöße leisten, den Zustand von vor dem Krieg zu akzeptieren, oder?

Nun, wegen der Wirksamkeit der Propaganda im eigenen Land hat Putin noch die Definitionsmacht darüber, was dieser Zustand für Russland bedeutet. Er könnte die alte Kontaktlinie propagandistisch als Sieg vermitteln – etwa als Triumph über die Nato oder als Sicherung der Grenze. Aber er macht davon bisher keinen Gebrauch. Und wir können es nicht an seiner Stelle tun. Darum ergibt es momentan überhaupt keinen Sinn, darüber nachzudenken, wie wir Putin helfen könnten. Er ist an dieser Hilfe nicht interessiert, sondern verfolgt weiter seine Ziele. Es spricht auch nichts dafür, dass er von diesen Zielen in den kommenden Wochen und Monaten abrückt, weil ihm der Einsatz von Material und das Sterben von Menschen, auch den eigenen Soldaten, völlig egal sind.

Finanzieren kann Putin seinen Krieg auch mit den Einnahmen aus dem Verkauf fossiler Energieträger an Europa. Für einen sofortigen Boykott von Kohle, Öl und Gas gibt es auf EU-Ebene keine Einigkeit. Alternativ haben Sie empfohlen, dem Vorschlag des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi für einen "Preisdeckel“ zu folgen. Was verbirgt sich dahinter und warum sind Sie dafür?

Mario Draghi unterstützt mit seinem Vorschlag eines Preisdeckels die Sanktionsabsicht gegen Russland und arbeitet dabei sowohl die Schwächen Russlands als auch die Versorgungsbedürfnisse der Europäer mit ein. Ich halte das für den klügsten Kompromiss und vielleicht sogar die beste Lösung, die überhaupt da ist. Seine Analyse ergibt, dass es richtig ist, Russlands Volkswirtschaft hart zu treffen, um dadurch Putins System und seine Kriegsfähigkeiten zu schwächen. Russland hat kaum Möglichkeiten, Öl oder Gas, das bislang nach Europa transportiert wird, in andere Regionen zu liefern. Denn sowohl russisches Gas als auch russisches Öl wird durch Pipelines nach Europa geliefert, und die große Zahl an Schiffen, die Putin bräuchte, um dieses Gas oder Öl nach Asien zu liefern, steht ihm nicht zur Verfügung. Darum ist Russland verwundbar.

Was hat das mit dem Preis zu tun?

Statt eines Totalembargos beenden wir das russische Geschäftsmodell. Wir deckeln den Verkaufspreis derart, dass Russland zwar seine Kosten deckt, aber mit Öl- und Gasverkäufen keine Gewinne mehr erzielt. Europas Energieversorgung wäre gesichert. Es spricht viel dafür, dass Russland sich darauf einlässt, denn wenn das Öl im Boden bleiben und die Quellen geschlossen werden müssten, wäre fraglich, ob sie je wieder wirtschaftlich betrieben werden könnten. Der wirtschaftliche Schaden für Russland wäre viel größer, als wenn es zu einem geringeren Preis liefern muss. Darum halte ich den Vorschlag Draghis für brillant und finde es wirklich unverständlich, dass die deutsche Regierung sich weder in der Person des Bundeskanzlers noch in der Person des Wirtschaftsministers auf diesen Vorschlag Italiens einlässt. Das zeigt, dass das Denken in der Bundesregierung eben doch nicht so europäisch ist, wie sie das gerne behaupten. Man lässt dieses wichtige Partnerland mit seinem Vorschlag allein dastehen. Und es gibt sogar noch einen weiteren Vorteil dieser Idee.

Welchen?

Draghi schlägt vor, die Differenz zwischen dem horrenden Energiepreis von heute, der ja nichts mit Angebot und Nachfrage zu tun hat, und dem, den wir bei einem Preisdeckel wirklich bezahlen, in einen Fonds zum Wiederaufbau der Ukraine einzuzahlen, so dass am Ende auch die Ukraine davon profitiert. Das ist also ein perfekter Vorschlag.

Aber er geht von der Annahme aus, dass Putin lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach akzeptiert...

Genau so ist es. Aber darin liegt auch das Staatsmännische, der Mut und auch die Risikobereitschaft in Draghis Vorschlag. Während die Regierungsmentalität in Deutschland lautet: Alles, was wir nicht glauben wirklich mit Sicherheit berechnen zu können, machen wir erst gar nicht. Lieber zahlen wir horrende Preise an Putin, als dass wir uns auf Draghis Vorschlag einlassen, der ein Restrisiko beinhaltet. Dabei können wir leider mit Sicherheit sagen, dass die wahnsinnigen Preise, die die Regierung bereit ist zu zahlen, einigen riesigen Schaden verursachen. Sie stabilisieren die russische Währung und verlängern damit den Krieg in der Ukraine. Mit dieser Mentalität wird die Regierung der Krise und dem, was sie uns an Außergewöhnlichem abverlangt, nicht gerecht.

Wenn es diesen Preisdeckel gäbe, würde dann nicht noch mehr russisches Gas gekauft, statt die Abhängigkeit zu verringern?

Dieser Einwand wäre berechtigt, wenn wir nicht das gerade beschriebene dritte Element hätten, nämlich dass die Preisdifferenz in einen Fonds einbezahlt wird. Das heißt, wir machen jetzt nicht russische Energie billiger, sondern wir entscheiden, den Spekulationsaufschlag zwar im Markt zu behalten, ihn aber für den Wiederaufbau der Ukraine zu reservieren.

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Zur Person: Norbert Röttgen sitzt für die CDU im Bundestag. Von 2014 bis 2021 leitete er den Auswärtigen Ausschuss, dem er weiterhin als Mitglied angehört. Von 2009 bis 2012 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
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