Am Dienstag (5. September) hat sich im Bundestag mit Abgeordneten von SPD, FDP, Grünen und CDU der "Parlamentskreis Uiguren" gegründet. In Peking wird das nicht unbeachtet bleiben, ist sich Mitglied Derya Türk-Nachbaur sicher. Im Interview spricht sie über Ziele, Forderungen und eine Frage, die sich jeder Konsument stellen sollte.

Ein Interview

Der UN-Bericht, der Hinweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Uiguren in Xinjiang dokumentiert, ist bereits über ein Jahr alt. Das Thema ist also nicht neu. Warum gründet sich jetzt ein Parlamentskreis dazu?

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Derya Türk-Nachbaur (SPD): Im vergangenen Jahr war ich mit dem Menschenrechtsausschuss in Taiwan und in Japan. Dort hatten wir Gelegenheit Vertreterinnen und Vertreter der Uiguren in diesen Ländern zu sprechen. Es war sehr eindrücklich, was sie erzählt haben. Wir dachten daher, dass es an der Zeit ist, im Deutschen Bundestag – im Herzen der Demokratie – diesem Thema eine Stimme zu geben.

Sie sind eine der Initiatorinnen.

Genau, als Mitglied des Menschenrechtsausschusses denke ich, dass es unsere Pflicht als freigewählte Abgeordnete ist, auf das Leid in der Welt zu schauen. Mit den Uigurinnen und Uiguren bin ich schon länger im Austausch. Inzwischen wissen wir, was da abgeht. Das Unrecht ist belegt und dokumentiert – da dürfen wir nicht Stillschweigen.

Was ist Ihnen aus den Gesprächen besonders in Erinnerung geblieben?

Es gab junge Menschen, die ihre Familien seit zehn oder 20 Jahren nicht gesehen haben. Sie wurden über Nacht abgeholt und in Internierungslager gebracht. Sie haben seitdem keinerlei Kontakt und wissen nicht, ob ihre Eltern noch leben oder nicht. Es gibt keine Bilder, keine Lebenszeichen. Das ist schlimm für junge Angehörige – sie konnten vielleicht fliehen, haben aber ein schweres Trauma mit sich zu tragen.

In Deutschland wissen viele Menschen nichts von dem Schicksal der Uiguren. Worüber sollte man die Öffentlichkeit aufklären?

Rund 13 Millionen Uiguren, Angehörige einer muslimischen Minderheit, leben in der autonomen Region Xinjiang. Über 10 Prozent von ihnen befinden sich in Internierungslagern. Das sind Konzentrationslager mit Zwangsarbeit und ohne Freiheiten. Das Schlimme ist: Die Ergebnisse dieser Zwangsarbeit hängen teilweise in unseren Schränken.

Wie?

Zum Beispiel in Form von verarbeiteter Baumwolle. 90 Prozent der gesamten chinesischen Baumwolle wird in Xinjiang angebaut – das entspricht einem Fünftel des weltweiten Baumwollangebots. Statistisch betrachtet hat jede oder jede von uns irgendein Kleidungsstück im Schrank, welches mit Baumwolle aus Xinjiang produziert worden ist. Das sollten Konsumentinnen und Konsumenten bedenken.

Was will der Parlamentskreis dagegen tun?

Die ersten politischen Forderungen sind bereits in Form des Lieferkettengesetzes ausformuliert, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Unternehmen haben dadurch die Verantwortung, genau hinzuschauen, ob ihr Produkt zum Beispiel mit Zwangs- oder Kinderarbeit hergestellt worden ist.

"Aus meiner persönlichen Sicht gilt: Es ist ein schleichender Genozid."

Was sind die Ziele des Parlamentskreises?

Politische Forderungen wird es viele geben: Wir werden nicht nur Aufmerksamkeit für das Leid der Uiguren herstellen, wir geben ihnen auch eine Plattform, wo sie ihre Sprache sprechen können und ihre Kultur leben dürfen. Zwangssterilisation und Zwangsabtreibungen müssen aufhören. Geburtenkontrolle an Uigurinnen ist aufs Schärfste zu verurteilen. Der Aufschrei ist noch viel zu leise.

Fordern sie auch die Einstufung der Verbrechen in Xinjiang als Genozid?

Das ist der Wunsch der uigurischen Community und einige Nationen haben das bereits getan. Der Begriff des Genozids ist juristisch sehr klar definiert. Wir müssen Fakten sammeln und schauen, ob es in dem Fall zutrifft. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aus meiner persönlichen Sicht gilt: Es ist ein schleichender Genozid. Es wäre mein Wunsch, es irgendwann auch als solchen betiteln zu können, wenn alle Daten und Fakten vorliegen.

Peter Heidt von der FDP, ebenfalls Mitglied des Parlamentskreises, hat gesagt, die FDP sei deutlicher im Umgang mit China, mit der SPD könne man aus Pekings Sicht vermutlich besser reden. Ist das ein "good cop, bad cop"-Spiel?

Ich würde das nicht so definieren. Wir haben unterschiedliche Historien, wie wir miteinander reden. Durch das Dialogforum der SPD mit China sind Gesprächskanäle erwachsen. Wir haben als SPD einen Auftrag – Deutschland ist keine Insel, wir haben gewisse Verpflichtungen. Zu China haben wir eine besondere wirtschaftliche Beziehung, aber es muss uns als frei gewählte Abgeordnete ein Anliegen sein, wenn Menschenrechte angegriffen werden, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen. Da sind auch wir als SPD sehr direkt in der Ansprache.

Aber?

Aber wir können uns nicht von jetzt auf gleich von China abkapseln. Dafür sind die Verflechtungen zu intensiv, das wird eine Weile dauern. Der Kurs Abhängigkeiten zu reduzieren, die Wirtschaft zu diversifizieren und mit anderen Partnerinnen und Partnern ins Gespräch zu kommen, ist richtig.

"China muss die Uiguren in Freiheit leben lassen."

Wird sich Peking dafür interessieren, dass sich in Deutschland ein Parlamentskreis gründet?

Ich glaube schon, dass Peking da sehr interessiert drauf achtet. Bei unserer Taiwan-Reise im vergangenen Jahr hat die chinesische Regierung uns Abgeordnete aufgefordert, Taiwan umgehend zu verlassen. Das hat China nicht gepasst. Ich bin mir sicher, dass die Gründung des Parlamentskreises nicht ungeachtet bleiben wird. Wir wissen, dass wir als Parlamentskreis vor Ort keine großen Umbrüche starten können, aber: Es wird den Ärger Chinas auf uns ziehen, damit rechnen wir.

Welche Forderungen haben Sie an die chinesische Regierung?

China muss die Uiguren in Freiheit leben lassen und ihnen zugestehen, ihre Religion und Kultur auszuleben. Die Zwangsinternierungslager müssen sofort aufgelöst werden und die Familien müssen zurück in ein normales Leben. Ich möchte auch hierzulande alle Menschen ermuntern, kritischer hinzuschauen, wo ihre Güter produziert werden – wenn sie Solarpanels kaufen ebenso wie beim Kleidung shoppen. Trotz Lieferkettengesetz gibt es nach wie vor Produkte, die es auf den Markt schaffen.

Zur Person: Derya Türk-Nachbaur ist Abgeordnete der SPD im Deutschen Bundestag. Sie ist unter anderem stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe "Menschenrechte und humanitäre Hilfe", Obfrau in der Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan sowie Mitglied der Arbeitsgruppe "Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung".
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