• Franziska Giffey will Berliner Bürgermeisterin werden. Im Wahlkampf lief es bislang nicht schlecht für sie.
  • Nun belasten neue Plagiatsvorwürfe ihren Wahlkampf.
  • Wer ist die Frau – und kann sie es noch schaffen?
Eine Analyse

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Mehr aktuelle News

Es ist nicht bekannt, ob Franziska Giffey den amerikanischen Science-Fiction-Film "Avatar" gesehen hat. Das neueste Wahlplakat der Frau, die am 26. September Berliner Bürgermeisterin werden will, sieht allerdings aus, als sei es in einem Fotostudio in Pandora – dem Spielort des Filmes voller blauer Wesen – entstanden: Giffey ist blau, der Hintergrund ist blau, einfach alles ist blau. Lediglich am oberen Bildrand ist ein Hinweis versteckt, dass Giffey ja für eine Partei antritt, deren Markenzeichen die Farbe Rot ist. Welche Assoziationen Giffey mit dem Foto wecken will, bleibt dem Betrachter verborgen. Vielleicht will sie auffallen.

Wobei sich Giffey zuletzt nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen konnte – lediglich über die falsche Sorte für jemanden, der zum Sprung in ein hohes politisches Amt ansetzt. Seit Monaten hat Giffey mit Zweifeln an ihrer Glaubwürdigkeit zu kämpfen. Auf eine für überstanden geglaubte Plagiatsaffäre folgt jetzt eine neue. Giffey führt einen Wahlkampf unter schwierigen Vorzeichen.

Rüge gegen Giffeys Promotion war nicht rechtens

Wir erinnern uns: 2019 hatte die Freie Universität Berlin, an der Giffey über "Europas Weg zum Bürger" promoviert hatte, eine Rüge ausgesprochen, weil die Politologin an 27 Stellen nicht nach wissenschaftlichen Standards zitiert habe. Weil das Berliner Hochschulrecht eine Rüge aber nicht vorsieht, entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, Giffeys ehemalige Universität wolle sie schonen. Giffey hatte den Fortgang ihrer politischen Karriere an den Ausgang des Verfahrens geknüpft.

Deshalb nahm die Universität ein Jahr später eine zweite Prüfung vor, die mit der Aberkennung des Titels endete. "Die Dissertation genügt nicht den Anforderungen an die gute wissenschaftliche Praxis", urteilten die Gutachter. Giffey, die nach der ersten Prüfung ihren Doktortitel nicht mehr führte, löste daraufhin ihr Versprechen ein und trat als Familienministerin zurück. Konsequent fanden das diejenigen, die nicht vergessen hatten, wie scharf die SPD mit Unionspolitikern umgegangen war, die in ihren Doktorarbeiten plagiiert hatten - Stichwort: Karl-Theodor zu Guttenberg.

Andere, wie die CSU, tönten, der Rücktritt sei nicht aufrichtig, weil er direkt in das nächste Amt führen sollte, nämlich in das der Regierenden Bürgermeisterin. "Faktisch nimmt sie sich nur eine Auszeit, um sich auf den Wahlkampf für den Posten der Regierenden Bürgermeisterin zu konzentrieren", sagte CSU-Generalsekretär Markus Blume damals. Strategisch klug war Giffeys Entscheidung allemal: Als Familienministerin hätte die Bekämpfung der Corona-Pandemie ihre gesamte Aufmerksamkeit benötigt, insbesondere jetzt, wo manche schon wieder über Lockdowns im Herbst spekulieren. Ohne Amt kann die Mutter eines Sohnes das tun, was eine Wahlkämpferin tun sollte: wahlkämpfen.

Da kommt es zur Unzeit, dass einen Monat vor der Wahl neue, nicht weniger massive Zweifel an Giffeys Glaubwürdigkeit aufkommen. Ein Professor der Freien Universität Berlin will in Giffeys Masterarbeit, die 2005 noch unter ihrem Mädchennamen Sülke an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin entstanden war, Auffälligkeiten entdeckt haben. "Die Masterarbeit ist in großen Teilen ein Flickenteppich aus Plagiaten. Einfachste Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens wurden verletzt", urteilte Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaften an der FU. 62 Stellen in der 91 Seiten langen Arbeit sollen mehr oder minder schwere Plagiate sein.

Ein zweites Plagiat wäre eine Katastrophe

Trifft der Vorwurf zu, dann wäre er für die Kandidatin aus zwei Gründen eine Katastrophe: Giffey hatte 2019 auf allen Kanälen gesendet, dass ihre Dissertation nach "bestem Wissen und Gewissen" entstanden sei – und wiederholte diesen Satz jetzt auch mit Blick auf ihre Masterarbeit. Wenn Giffey demnächst des doppelten Betrugs überführt würde, wäre diese Verteidigungslinie aber kaum zu halten, zumal die FU Berlin schon bei den Plagiaten in ihrer Doktorarbeit von "mindestens bedingtem Vorsatz" gesprochen hatte. Dazu kämen grundsätzliche Zweifel an ihrer charakterlichen Eignung für höchste politische Ämter: Träfen die Vorwürfe zu, hätte Giffey bereits während ihres Master-Studiums erkannt, keine Lust am wissenschaftlichen Betrieb zu haben, der nämlich nicht im Zusammenfügen von Wortschnipseln besteht, sondern aus der Erbringung eigener Forschungsleistungen. Wenn sie wenige Jahre später eine ebenfalls plagiierte Doktorarbeit nachgeschoben hätte, würde das das Bild einer rücksichtslosen Karrieristin zeichnen. Gleichzeitig könnten sich viele Wähler die Fragen stellen, ob ausgerechnet Giffey für die Aufsicht über den akademischen Betrieb in Berlin geeignet wäre. In Berlin ist der Bürgermeister gleichzeitig Senator für Wissenschaft und Forschung.

Zur Wahrheit gehört allerdings dazu, dass die Diskussion über Giffeys Plagiate im Berliner Politik- und Medienkomplex erregter geführt wird als bei den Berlinern. Mit 22 Prozent Zustimmung für die SPD hat Giffey Stand jetzt solide Chancen, am Wahltag als Gewinnerin vom Platz zu gehen. Sie liegt in der jüngsten INSA-Umfrage vor den Grünen, als stärkste Kraft in der Hauptstadt. Gut möglich also, dass Berlin weiterhin zu den wenigen Bundesländern gehört, in denen die SPD noch Wahlen gewinnt.

Das hat freilich meistens dann geklappt, wenn sich SPD-Kandidaten an das Prinzip hielten, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden, nicht im linksliberalen Spektrum. Giffey legt seit Jahren Wert darauf, in bürgerlichen Kreisen genauso wählbar zu sein wie in multikulturellen – in dieser Hinsicht ist sie glaubwürdig. In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft wird dieser Anspruch indes komplizierter. Im Juli etwa sprach sich Giffey dafür aus, Straftäter weiterhin nach Afghanistan abzuschieben. Der "Schutz der in Deutschland lebenden Bevölkerung" sei höher zu gewichten als der eines Menschen, "der die Rechte anderer mit Füßen tritt". Der Satz fiel zu einem Zeitpunkt, an dem die Sicherheitslage in Afghanistan längst so desolat war, dass Abschiebungsflieger noch auf deutschem Boden kehrtmachten oder gar nicht abhoben. Dahinter steckte wohl das strategische Kalkül, mit einer "Ansage" die Seelen mancher konservativen Wähler zu streicheln. Wähler links der Mitte, aber auch Bürgerliche, von denen sich viele in Kirchengemeinden für Flüchtlinge engagieren, stoßen solche Sätze ab.

Giffey schätzt Law and Order

In die üblichen Kategorien von links und rechts lässt sich die Frau mit dem warmen Lächeln, die einmal den ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani als Vorbild bezeichnete, deshalb schwer einordnen: "Law and Order"-Politikerin trifft es ganz gut, gerade mit Blick auf ihr aktuelles Wahlprogramm. Dort hat Giffey das Thema Sicherheit zur Priorität erklärt – es füllt ganze 15 Seiten. "Linksextremist:innen, die den Staat und die Demokratie bekämpfen, tritt die SPD entschlossen entgegen", ist ein Satz, der dort steht und eigentlich nicht zum Standardprogramm von Sozialdemokraten gehört. Man kann diese Positionierung als Angriff auf die CDU verstehen, die die Sicherheit stets als ihr ureigenes Thema versteht, in diesem Corona-Wahljahr aber die Bildung in den Mittelpunkt stellt. Allen Jugendlichen will deren Spitzenkandidat Kai Wegner ein "Bildungsversprechen" machen. Dazu gehört, dass jeder Berliner Schüler die Schule mit einem Abschluss verlassen soll. Außerdem trommelt der langjährige Bundestagsabgeordnete für eine "Verkehrswende" in der Stadt: Jedes Schlagloch soll binnen 24 Stunden nach Meldung repariert sein, mindestens 50.000 neue Ladepunkte für E-Autos sollen in den nächsten fünf Jahren aufgebaut werden. Das Thema Sicherheit ist für die CDU dagegen nur ein Thema von vielen.

Persönlich will Giffey als Macherin, als eine Frau der klaren Worte wahrgenommen werden – in ihrer ganzen Inszenierung legt die ehemalige Bürgermeisterin des Problembezirks Neukölln darauf wert. Legendär sind zum Beispiel die Bilder, die sie in orangem Overall beim Schieben von Mülltonnen zeigen, anlässlich des Internationalen Frauentags. Hängen geblieben ist aus ihrer Neuköllner Zeit auch, dass sie mit Müllsheriffs gegen illegale Abfallkippen vorging, vor Problemschulen Wachleute patrouillieren ließ und gegen Eltern, die ihre Töchter aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen ließen, Bußgelder verhängte. Es ist möglicherweise ein Vorgeschmack auf das, worauf sich die Berliner ab September gefasst machen können.

Auch in ihrer Zeit als Familienministerin gab sich Giffey, die ihren Dialekt anders als viele Spitzenpolitikerinnen und -politiker nicht abtrainiert hat, volksnah. Etwa, indem sie Gesetzen einfache Namen ("Gute Kita", "Starke Familien") gab, die sich in das Hirn der Wähler einbrannten. Anschließend erzählte sie so lange davon, bis es auch der letzte im Land mitbekommen hatte. Das mag nervig wirken, ihr Ehrgeiz wirkt im Kontrast zum oft fahrig wirkenden Bürgermeister Michael Müller allerdings wie ein Feuerwerk - der wirkt auf viele Menschen wie ein sprechender Leitz-Ordner.

Giffey steht für Realismus links der Mitte

Müller und sein Kabinett, in dem neben der SPD auch Grüne und Linke vertreten sind, stellen Giffey gleichzeitig vor das größte Problem, ihre Plagiatsaffären einmal ausgenommen: Müllers Kabinett ist einfach schrecklich unbeliebt. Das betrifft insbesondere das Corona-Management, welches viele Berliner als mangelhaft empfunden haben – nicht nur unter den Clubbesitzern, die immer noch darauf warten, ihrer Arbeit nachgehen zu dürfen. Ihre Landesregierung hatte zeitweise die schlechtesten Kompetenzwerte bundesweit. Giffey muss also der Spagat gelingen, sich von der SPD-geführten Regierung abzusetzen, ohne die eigene Partei zu verleugnen.

Dafür hat sie ein Thema in den Blick genommen, über das sich die Berliner herzlich streiten können: die Mietpreise. Die Regierung hatte es nicht geschafft, mit guter Wohnungspolitik ein Volksbegehren zu verhindern, das die Enteignung großer Wohnungskonzerne in der Stadt vorsieht. Parallel zur Bundestagswahl dürfen die Berliner deshalb darüber abstimmen, ob rund 240.000 Wohnungen in der Stadt vergesellschaftet werden. Die Initiatoren versprechen sich von dem Vorhaben günstigere Mieten.

Die Banalität, dass durch die Umwidmung bestehender Wohnungen keine neuen Wohnungen entstehen, weshalb der einzige Schlüssel zu günstigerem Wohnraum schnellere Baugenehmigungen oder höhere Gebäude sind, hat bei den Kandidaten links der Mitte einzig Giffey verstanden. Sie hält das Vorhaben, wie die meisten Fachleute, für Humbug und will stattdessen 20.000 Wohnungen pro Jahr bauen. Bei den Wohnungskonzern-Enteignern kommt dieser Pragmatismus nicht gut an.

Die Linke will das Vorhaben hingegen unterstützen. Und auch Bettina Jarasch, eine zugezogene Bayerin, die für die Grünen antritt, will für das Vorhaben stimmen. Ihre Partei steht in Berlin für einen dezidiert linkeren Kurs als die Bundespartei der Grünen und verschreckt mit ihrer Position zum Volksbegehren vor allem bürgerliche Wähler.

Wobei nicht einmal klar ist, ob das Vorhaben umgesetzt würde, wenn die Berliner mehrheitlich dafür stimmten. Die Entschädigungszahlungen würden Berlin Milliarden kosten – die Hauptstadt wäre dann tatsächlich arm. Aber sexy?

Verwendete Quellen:

  • Wahlprogramm der CDU für das Berliner Abgeordnetenhaus
  • Wahlprogramm der SPD für das Berliner Abgeordnetenhaus
  • Wahlprogramm der Linken für das Berliner Abgeordnetenhaus
  • Wahlprogramm der Grünen für das Berliner Abgeordnetenhaus
  • T-Online: Plagiate in Giffeys Masterarbeit - "An Dreistigkeit nicht zu überbieten"
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.