• Am 19. April verkünden die Grünen, wer ihr Spitzenkandidat beziehungsweise ihre Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2021 sein wird.
  • Annalena Baerbock hat gute Chancen, das Rennen zu machen.
  • Die vielbeschriebene Frauenquote der Grünen spielt dabei aber nur eine geringe Rolle.
Eine Analyse

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Kaum ein Datum bewegt das politische Deutschland derzeit so sehr wie der 19. April. An diesem Tag, dem kommenden Montag, werden die Grünen bekanntgeben, welchen Politiker sie in das Rennen um das Kanzleramt schicken ­– oder vielmehr: welche Politikerin. Denn bei dem Kopf-an-Kopf-Rennen, das sich die beiden Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock um die Kanzler(innen)kandidatur liefern, hat Baerbock neuerdings eine Nasenlänge Vorsprung.

Das liegt auch daran, dass bei den Grünen Frauen grundsätzlich ein Erstzugriffsrecht auf Posten und Listenplätze haben – Männer werden immer erst an zweiter Position aufgestellt. Wenn Baerbock will, ist die Kandidatur ihr also sicher.

Doch die beiden Vorsitzenden haben immer wieder betont, dass diese wichtige Entscheidung nicht nach der Quotenregel getroffen werden soll. So sagte Habeck bei Anne Will, das Kanzleramt sei "nicht quotierbar". Weder er noch Baerbock würden in dieser Frage nach dem Frauenvorzugsrecht der Grünen argumentieren.

Fernab der Quote gab es bisher einen handfesten Grund, der gegen eine Kandidatur von Baerbock sprach: Habeck schnitt in Umfragen stets etwas besser als sie ab. Das änderte sich nun vergangene Woche erstmals. Eine Forsa-Umfrage stellte fest, dass prozentual mehr Befragte Baerbock ihre Stimme geben würden als Habeck, wenn sie ins Rennen um das Kanzleramt geschickt werden würde.

Die Grünen haben realistische Chancen aufs Kanzleramt

Diese Umfrageergebnisse werden in der Parteizentrale überaus aufmerksam verfolgt, denn erstmals in der Geschichte der Partei haben die Grünen eine realistische Chance darauf, den nächsten Kanzler oder die nächste Kanzlerin zu stellen. Laut Forsa-Umfrage vom 7. April sind die Grünen derzeit mit 23 Prozent Zustimmung die zweitbeliebteste Partei Deutschlands. Der Vorsprung der CDU/CSU ist auf vier Prozentpunkte zusammengeschrumpft, sie kommt auf 27 Prozent. Die SPD liegt mit 15 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz.

Die Frage ist daher nun, welcher der beiden Politiker die Grünen erfolgreicher durch den Wahlkampf führen und möglicherweise sogar die erste grüne Regierung an der Spitze einer wichtigen Industrienation realisieren kann.

Der Politologe Uwe Jun glaubt, dass Habeck bei dieser Aufgabe einen großen Pluspunkt gegenüber Baerbock hat: "Er wirkt stärker im Bereich der Wechselwähler der Unionsparteien. Seine Art spricht moderate Wähler an, sie fühlen sich von ihm nicht verschreckt." Das liege am abwägenden, nachdenklichen Eindruck, den Habeck hinterlasse. "Er erscheint souveräner und kann Politik gut erzählen", sagt Jun.

Baerbock hingegen formuliere ihre Positionen gerade im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik so klar, dass sie damit Wähler aus dem konservativ-bürgerlichen Lager eher verschrecken könnte: "Das könnte den Ausschlag dazu geben, zu sagen, dass die Grünen mit Habeck womöglich ein besseres Wahlergebnis erreichen könnten."

Baerbock ist besser in Berlin vernetzt

Ein weiteres Argument, das häufig für Habeck angeführt wird, lässt Jun indes nicht gelten. Zwar habe Habeck Regierungserfahrung als stellvertretender Ministerpräsident und Umweltminister in Schleswig-Holstein gesammelt, seine Erfahrung sei aber auf die Länder-Ebene beschränkt. Baerbock kenne sich dafür deutlich besser im Bund und in Berlin aus.

"Sie ist sehr gut innerhalb der Partei vernetzt und kennt den Berliner Politikbetrieb von innen. Das ist ein großer Vorteil für eine mögliche Kandidatur", sagt Jun. Dass Baerbock einen größeren Rückhalt in der Partei hat, zeigten auch die Ergebnisse zur Wiederwahl an die Parteispitze: Während Baerbock 97,1 Prozent der Stimmen erhielt, kam Habeck auf 90,4 Prozent. Sie verbuchte damit das beste Ergebnis seit der Parteigründung für sich.

In der Tat sitzt Baerbock schon seit 2013 im Bundestag. Dort hat sie sich vor allem in EU-Themen eingearbeitet. Hier liegt ein weiterer Vorteil, mit dem sie sich fürs Kanzlerinnenamt empfiehlt: Denn der Erfolg oder das Scheitern der nächsten Kanzlerin oder des nächsten Kanzlers wird auch zu großen Teilen auf dem Parkett der EU entschieden werden, da die Staatenunion seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich enger zusammengerückt ist.

Baerbock hat außerdem verschiedene Eigenschaften, die ihr als neue Kanzlerin nützlich sein würden. Ihr wird nachgesagt, sich besonders schnell in neue Themen einarbeiten zu können und gleichzeitig hat sie den Hunger nach Macht, den es für eine solche Spitzenposition braucht.

Davon ist auch Jun überzeugt: "Baerbock hat ihren unbedingten Führungswillen an verschiedenen Stellen ganz klargemacht." So sagte sie etwa im März zum "Spiegel", dass der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur zugunsten Habecks "ein kleiner Stich ins Herz" für sie wäre. Und bereits im Dezember hatte sie zur "Bild am Sonntag" gesagt: "Ja, ich traue mir auch das Kanzleramt zu."

Geschlossenheit der Grünen bleibt wichtigstes Ziel

Im letzteren Interview ergänzte sie allerdings, dass sie auch Habeck den Posten zutraut. Sie würden nun "gemeinsam entscheiden, was das Beste für das Land und unsere Partei ist". Diese demonstrativ harmonische Entscheidungsfindung ist bei den Grünen noch wichtiger als die eigentliche Frage, wer von den beiden die Kandidatur letztlich übernehmen wird – Führungswille hin oder her.

Jun bestätigt: "Baerbock wird keine eigenmächtige Entscheidung treffen, sondern sich eng mit Habeck abstimmen, weil sie die Grünen zusammenhalten will und es wichtig für die Partei ist, geschlossen in den Wahlkampf zu gehen."

Geschlossen wird es auch nach dem Wahlkampf weitergehen, das ist klar. Denn beide Kandidaten haben dem jeweils anderen ihre Unterstützung zugesagt. Und: "Beide Kandidaten haben ganz klar gesagt, dass sie offen in mögliche Koalitionsgespräche gehen werden, um möglichst viel grüne Politik zu ermöglichen", sagt Jun. Allein die Akzente würden sich unterscheiden. So liegen Baerbock vor allem die Fragen Bildung, Familienpolitik und sozialer Ausgleich am Herzen, während Habeck laut Jun "stärker ins bürgerliche Spektrum hineinragt", wie er als Mitbegründer der Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein unter Beweis gestellt habe.

Die Wahl des Kanzlerkandidaten oder der -kandidatin wird also richtungsweisend für den Wahlkampf der Grünen sein. Auf wen die Wahl letztlich fallen wird, ist eine Woche vor der Entscheidung noch völlig offen, die eine Hälfte der politischen Beobachter setzt auf Habeck, die andere auf Baerbock und die Parteikollegen schweigen ganz im Sinne der harmonischen Entscheidungsfindung.

Doch für Jun ist klar, dass Baerbock Kanzlerkandidatin werden kann, wenn sie es will: "Sie hat es in der Hand."

Über den Experten: Der Politikwissenschaftler Dr. Uwe Jun ist Professor für Regierungslehre an der Universität Trier, wo er sich mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. 2020 hat er ein Buch zu den Parteien nach der Bundestagswahl 2017 und den aktuellen Entwicklungen des Parteienwettbewerbs veröffentlicht.
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