Union und SPD gehen in die nächste Runde ihrer Koalitionsverhandlung. Aber wie laufen solche Gespräche eigentlich ab, wie geht man mit roten Linien um und was tut man, wenn es mal kracht? Fragen an einen, der es wissen muss – Anton Hofreiter.

Ein Interview

Im Eiltempo haben CDU/CSU und SPD ihre Sondierungsgespräche abgeschlossen und auch bei den Koalitionsverhandlungen legen die Parteien Tempo vor. Wenn es nach Friedrich Merz geht, soll die Regierung möglichst bis Ostern stehen.

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Wie kann man sich solche Verhandlungen vorstellen – und worauf kommt es besonders an? Anton Hofreiter hat damit Erfahrung. Dieses Mal sitzt er zwar nicht mit am Tisch. Die Grünen haben bei der Bundestagswahl deutlich verloren – für die Regierungsbildung werden sie nicht gebraucht.

2013 aber war er Teil der Sondierungen für schwarz-grün im Bund, 2017 bei den legendären Jamaika-Gesprächen dabei und 2018 sondierte er in Bayern mit der CSU. Auch die Ampel hat er mit verhandelt. War sowohl an den Sondierungs- als auch den Koalitionsgesprächen für das Bündnis beteiligt.

Herr Hofreiter, CDU/CSU und SPD führen gerade intensive Gespräche über das Zustandekommen einer Regierung. Wie laufen solche Koalitionsverhandlungen ab?

Anton Hofreiter: Zu Beginn stehen die Sondierungen. Die werden meist in kleineren Gruppen, von drei bis sechs Leuten pro Partei, geführt. Dort besprechen die Sondierer eher prinzipielle Dinge, manchmal aber auch schon inhaltliche Knackpunkte. Einigen sie sich darauf, in Koalitionsverhandlungen zu gehen, werden eine Vielzahl von Arbeitsgruppen gebildet. Welche genau, legen meist die Generalsekretäre fest.

Und deren Job ist?

In den Gruppen verständigen sich die Beteiligten auf inhaltliche Linien zu konkreten Fragen. Wenn eine Fachgruppe nicht zueinander kommt, gibt es manchmal auch sogenannte "Beichtstuhlverfahren". Dann müssen die Chefverhandler der Gruppe bei der Parteispitze auflaufen, die sich dann um eine Lösung bemüht.

Die Arbeitsgruppen von Union und SPD haben ihre Ergebnisse bereits verkündet. Wie geht es jetzt weiter?

Im Anschluss gibt es die sogenannten Chefrunden. Dort tauschen sich dann nur die Parteichefs, beziehungsweise die Verhandlungsführer der Partei, über die Ergebnisse aus den Gruppen aus.

Wie bereiten die Verhandlungsführer sich auf solche Verhandlungen vor?

Dazu gehört etwa, Verhandlungspapiere auszuarbeiten oder mit seinen engsten Mitarbeitern Ziele und rote Linien festzulegen. Natürlich ohne sie nach außen zu kommunizieren.

Gibt es eine parteiinterne Strategie für solche Verhandlungen? Vielleicht sogar Planspiele?

Ja, natürlich. Allerdings nicht als großen Schlachtplan für die gesamte Partei. Aber für die einzelnen Themenbereiche gibt es entsprechende Überlegungen. Wir Grünen haben etwa immer versucht, auszumachen, was den Verhandlungspartnern besonders wichtig ist. Was auch nicht zu unterschätzen ist, ist die "öffentliche Verhandlung". Also wann etwas aus den Gesprächen nach außen kommuniziert wird. Etwa die Botschaft "bei diesen Punkten wird es gerade schwierig".

Eine Partei ist allerdings kein einheitlicher Block. In den meisten gibt es Strömungen mit teils unterschiedlichen politischen Auffassungen. Wie bekommt man die unter einen Hut?

Ein Teil davon ist das eigene Wahlprogramm. Dafür hat man ja schon Kompromisslinien gefunden und kann dank dieser einheitlich auftreten. Dazu kommt die Besetzung der Verhandlungsgruppen. Wenn die Verantwortlichen für die Gruppen klug sind, setzen sie diese so zusammen, dass in ihnen das gesamte Spektrum der Partei abgebildet ist. Wichtig ist dann: eine gemeinsame Linie, bevor die Gruppe auf ihre jeweiligen Verhandlungspartner trifft.

Die dünne ist harmlos, wer über die dicke rote Linie tritt, hat hingegen ein echtes Problem.

Anton Hofreiter, Bundestagsabgeordneter

Nicht mit am Tisch sitzt die Parteibasis. Die sieht Kompromisse aber oft deutlich kritischer. Gibt es bei Koalitionsverhandlungen einen Prozess, um sich Verhandlungserfolge von der eigenen Basis bestätigen zu lassen?

Nein. Natürlich hört man während des Prozesses in die Basis, aber man kann nicht endlos Rücksprache halten. Es ist eine zentrale Aufgabe der Parteivorsitzenden und der verhandelnden Abgeordneten, einschätzen zu können: Was ist ein guter Kompromiss – und was für die Basis untragbar. Wenn man sich da verschätzt, hat man ein Problem.

Ihr Parteikollege Jürgen Trittin hat dem Spiegel gesagt: "Verhandlungen fangen erst jenseits der roten Linien richtig an". Das klingt deutlich konfrontativer als Sie es gerade beschreiben.

Das kommt darauf an, was man als rote Linien definiert. Manche sagen auch: Es gibt dünne und dicke rote Linien. Die dünne ist harmlos, wer über die dicke rote Linie tritt, hat hingegen ein echtes Problem. Es gibt auch Kompromisse, die ein Problem sein können, weil sie nicht auf Augenhöhe mit der Zeit sind. Zum Beispiel das ursprüngliche Konzept für die Schuldenbremsen-Reform von Union und SPD. Es sollte Verteidigungsausgaben von den Regelungen ausnehmen – Satelliten, der Geheimdienst oder der Zivilschutz wären aber nicht berücksichtigt worden.

Im Wahlkampf haben sich die Grünen auch nach der Abstimmung der Union mit der AfD weiter offen für Schwarz-Grün gezeigt. Viele Ex-Grünen-Wähler quittierten das mit einem Kreuz bei der Linken. War das eine solche "dicke rote Linie"?

Für diese Wahlentscheidungen gab es sehr unterschiedliche Gründe. Mir hat jemand nach der Wahl erzählt, dass ihm überhaupt nicht klar gewesen sei, dass die Linke so eine unverantwortliche Position zur Unterstützung der Ukraine hat. Dass ihr Antifaschismus an der deutschen Außengrenze endet. Ich bin auch der Meinung, dass man gegenüber der Union noch deutlicher hätte sein müssen. Aber: Man darf eine Koalition mit einer anderen demokratischen Partei nicht ausschließen. Sonst droht das Land unregierbar zu werden.

Natürlich ist das persönliche Verhältnis beschädigt worden.

Anton Hofreiter, Bundestagsabgeordneter

Zurück zu den derzeitigen Koalitionsverhandlungen: Wie wichtig ist die menschliche Komponente dabei?

Die wird völlig unterschätzt und ist von entscheidender Bedeutung. Häufig unterscheiden sich die Ziele der Parteien nicht sonderlich voneinander. Kein Demokrat will, dass die Klimakatastrophe schlimmer wird, oder es Krieg gibt. Was sich unterscheidet, sind die Lösungsansätze. Verstehen sich die Beteiligten und haben einen guten menschlichen Draht zueinander, ist es viel einfacher, mögliche Lösungswege auszuhandeln.

In Koalitionsverhandlungen werden alle Register gezogen. Manchmal wird sogar gedroht, erpresst, oder es gibt Wutausbrüche. Wie kann es danach trotzdem konstruktiv weitergehen?

Ich bin selbst schon mal in solchen Verhandlungen laut geworden und habe auch erlebt, dass sich gegenseitig angebrüllt wurde. Aber das meiste davon ist keine Taktik. Das Wichtigste ist, dass alle Beteiligten wollen, dass das Ganze am Ende erfolgreich ist. Wenn das gegeben ist, schüttelt man sich und macht einfach weiter.

Bei den Jamaika-Verhandlungen wurde damals durchgestochen, was das Zeug hielt. Die Ampel-Verhandlungen gelten hingegen als Musterbeispiel für Konstruktivität. Doch von dem dort aufgebauten Vertrauen, war am Ende nicht mehr viel übrig.

Natürlich ist das persönliche Verhältnis beschädigt worden und die Leute waren vom menschlichen Umgang miteinander verletzt. Aber man darf nicht vergessen, dass die Regierung von Anfang an unter enormen Druck stand. Wochen nach Antritt der Ampel überfiel Russland die Ukraine ein zweites Mal. Wir waren komplett abhängig von russischer fossiler Energie – und die Regierung hatte von ihren Vorgängern einen strategischen Scherbenhaufen geerbt. Dem war eine Dreier-Koalition wie die Ampel, in der die FDP ums politische Überleben kämpfte, am Ende nicht gewachsen.

Der Druck auf die Regierung ist nicht weniger geworden. Erodiert das Vertrauen von Politikern untereinander künftig weiter?

Die Gefahr ist durchaus da. Ein Ausweg dafür ist, dass die Politik neue Realitäten schneller zu akzeptieren lernt. Ein großes Problem der Ampel war, dass es nach Ausbruch des Ukrainekriegs von verschiedenen Seiten hieß: Wir haben keine Notlage und müssen deswegen nicht mehr investieren. In dem Moment, in dem Union und SPD eine neue Regierung bilden wollten, war diese Auffassung auf einen Schlag weg.

Das klingt nach mehr Pragmatismus. Drohen dadurch nicht die Unterschiede zwischen den Parteien zu verwischen?

Pragmatismus ist dann gefährlich, wenn er als Ideenlosigkeit oder Beliebigkeit wahrgenommen wird. Aber Pragmatismus heißt nicht, dass alle die gleichen Lösungen vorschlagen. So zu tun, als gäbe es die neue Wirklichkeit gar nicht und einfach weiterzumachen wie zuvor – das ist das eigentliche Problem.

Zum Gesprächspartner:

  • Dr. Anton Hofreiter wurde 1970 in München geboren. Er ist studierter Biologe und promovierte 2003 an der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität. 1986 wurde er Mitglied bei Bündnis90/Die Grünen für die er 2005 in den Bundestag einzog. Zwischen 2011 und 2013 war er dort Vorsitzender des Verkehrsausschusses und von 2013 bis 2021 Vorsitzender der Grünen-Fraktion. Seit 2021 hat er den Vorsitz des Europa-Ausschusses inne.