Thüringen will keine Minderheitsregierung mehr. Und obwohl sich Bodo Ramelow kaum Hoffnungen machen kann, dass er den Freistaat künftig führen wird: Nach den Landtagswahlen könnte Thüringen noch eine Weile mit seinem rot-rot-grünen Bündnis leben müssen. Der Grund: Die komplizierte Gemengelage in Thüringen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Thomas Pillgruber sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sein "Bedarf an Minderheitsregierung ist gedeckt", konstatierte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) vor einigen Monaten. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger des Freistaats dürfte diese Aussage wohl sofort unterschreiben.

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1.643 Tage wird Ramelow das Land mit seinem rot-rot-grünen Bündnis am Stichtag der Thüringen-Wahl 2024 geführt haben. Ein Rekord: Die zweitlängste Minderheitsregierung in Deutschland kommt auf fast 200 Tage weniger. Helfen wird Ramelow dieses politische Durchhaltevermögen am 1. September kaum. Eine dritte Amtszeit steht für ihn in weiter Ferne. Seine Minderheitsregierung hat das Land erschöpft und die Linke in den Umfragen drastisch abstürzen lassen.

Das sieht auch der Politikwissenschaftler Andre Brodocz von der Uni Erfurt so. Dass rot-rot-grün in Thüringen jahrelang von der CDU abhängig gewesen sei, habe dazu geführt, "dass Kompromisse unter den drei regierenden Parteien noch einmal in einem weiteren Kompromiss mit der CDU abgeschliffen wurden", wie der Forscher es in einer schriftlichen Antwort auf Anfrage unserer Redaktion erklärt.

Bei vielen Entscheidungen sei nicht mehr erkennbar gewesen, "wer eigentlich wofür verantwortlich war". Zusammen mit den abgesagten Neuwahlen hätte das das Vertrauen der Thüringer in die Politik geschwächt. "Davon profitieren die daueroppositionelle AfD und das neue BSW", sagt Brodocz

In Thüringen führt kein Weg am BSW vorbei

In den Umfragen ist das deutlich zu spüren. Daran, dass die AfD am Sonntag stärkste Kraft in Thüringen werden wird, zweifelt kaum jemand. Die Partei, die in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird, liegt bei etwa 30 Prozent.

Das BSW hat sich derweil zum Shooting-Star der thüringischen Politik entwickelt. Die CDU liegt mit bis zu 23 Prozent als zweitstärkste Kraft nur wenige Prozente vor dem erst wenige Monate alten Bündnis. Für Brodocz generell ein positives Zeichen. "Mit dem BSW ist eine neue Partei dazu gekommen, durch die politische Mehrheiten wieder möglich werden."

Was Brodocz meint: Wer in Thüringen regieren will, kommt um das BSW nicht herum. Eine Koalition mit der AfD haben alle Parteien ausgeschlossen. Gleiches gilt von Seiten der CDU für die Linke. Die FDP dürfte derweil aus dem Landtag fliegen – und die Grünen den Wiedereinzug, wenn überhaupt, nur haarscharf schaffen. Übrig bleibt damit nur die Konstellation: CDU, BSW und SPD.

Umfragen zufolge käme das Dreiergespann auch auf eine Mehrheit im Landtag. Und Bereitschaft für eine Koalition haben die drei Parteien auch schon signalisiert. "Ich sehe eine realistische Chance für ein Bündnis aus CDU, SPD und BSW", sagte SPD-Spitzenkandidat Georg Maier der "Welt". Und auch Thüringens CDU-Chef und Spitzenkandidat Mario Voigt blinkt bereits seit Wochen deutlich in Richtung der Wagenknecht-Truppe.

Können CDU, BSW und SPD überhaupt miteinander?

Bleibt das Problem: Allein schon die inhaltliche Ausrichtung der potenziellen Partner könnte zu Dauerstreit Marke "Ampel" führen. Zwar haben CDU und das Bündnis Schnittmengen beim Thema Migration. Beide wollen etwa mehr Abschiebungen, insbesondere bei Straftätern, während die SPD hier bremst.

Umgedreht dürften sich BSW und SPD in sozialpolitischen Themen deutlich leichter einig werden als das mit der konservativen CDU möglich wäre. Wofür das BSW genau steht, darüber rätselt man bei den Christdemokraten ohnehin noch. "Beim BSW können sich die Wähler nicht sicher sein, was sie bekommen", sagte Voigt im Interview mit unserer Redaktion.

Bei der CDU blickt man zudem besonders kritisch auf BSW-Gründerin Wagenknecht. Voigt befürchtet, dass diese sich künftig in die Thüringer Politik einmischen könnte. Dass sie im Freistaat mitreden will, hat Wagenknecht bereits klar gemacht. "Natürlich werde ich mich auch persönlich einbringen", erklärte sie unlängst. Das könnte die Koalition belasten und sogar verhindern. Es gäbe "mit dem BSW keine Gesprächsgrundlage", solange Wagenknecht von außerhalb Thüringens die Ansagen mache, sagte Voigt zuletzt.

Zu einer Zerreißprobe könnte werden, dass das BSW Anträge der AfD nicht kategorisch ablehnen will. Eine Ansage von Wagenknecht, die man in Thüringen unterstützt. "Die Strategie, die AfD in die Schmuddelecke zu stellen und dann so zu tun, als sei sie nicht da, ist aus meiner Sicht gänzlich gescheitert", erklärt BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf im Gespräch mit unserer Redaktion. Auch wenn die Brandmauer zur AfD unter Voigt bereits bröckelte, dürfte er kaum zulassen, dass der Koalitionspartner Anträge der Rechtspopulisten durchwinkt.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Personal. Gerade mal 80 Mitglieder hat das BSW in Thüringen: Zu wenig, um sich an einer Regierung beteiligen zu können, sagen manche.

Justiz könnte AfD-Sperrminorität zu spüren bekommen

Selbst wenn CDU, BSW und SPD zu einer funktionierenden Regierungskoalition zusammenfänden, droht in Thüringen nach der Wahl eine politische Krise. Denn eine mögliche Sperrminorität der AfD bereitet den anderen Parteien Sorge. Dafür sind ein Drittel der Sitze im Landtag nötig – angesichts der Umfragewerte für die AfD ein realistisches Szenario.

Mit der Sperrminorität könnte die Partei künftig alle Entscheidungen, die mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden müssen, blockieren. Vor allem die Justiz in Thüringen würde das zu spüren bekommen. Sowohl für die Wahl der Richter am Landesverfassungsgericht als auch die Besetzung des Richterwahlausschusses braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Letzterer beruft alle Richter in Thüringen.

Und dort steht die Justiz "vor einem Generationenwechsel", warnte Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt zuletzt. "Viele Richter und Staatsanwälte gehen in den kommenden Jahren in Pension." Einfach keine neuen Richter nachrücken zu lassen, wäre eine rechtsstaatlich untragbare Situation.

Für die anderen Parteien hieße das, sie müssten die Brandmauer zur AfD einreißen, um darüber zu verhandeln – oder Neuwahlen ausrufen.

Neuwahlen? Keine wirkliche Option

Aber selbst Neuwahlen wären im Falle einer Sperrminorität der AfD theoretisch nicht möglich: Auch zur Auflösung des Landtags braucht es eine Zweidrittelmehrheit.

Theoretisch kann der Ministerpräsident das Parlament auflösen, indem er die Vertrauensfrage stellt und verliert. Doch die Regelung für die Vertrauensfrage besagt auch, dass es erst dann zu Neuwahlen kommt, wenn innerhalb von drei Wochen kein neuer Ministerpräsident gewählt wird. Und diesen Wahlgang könnte die AfD-Fraktion im Anschluss an die Vertrauensfrage einfach per Antrag erzwingen.

In Thüringen gilt, dass ein Kandidat für das Amt in den ersten zwei Wahlgängen mit absoluter Mehrheit gewählt wird. Gelingt dies nicht, so ist laut der Geschäftsordnung des Landtags "gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält" Anders gesagt: Wenn die AfD einen Kandidaten aufstellen würde, müssten die anderen Parteien darauf mit einem Gegenkandidaten reagieren.

Ein Teufelskreis.

Streit um Landtagspräsidenten könnte Parlament lahmlegen

Unabhängig davon gilt es schon jetzt als ausgemacht, dass der Thüringer Landtag nach der Wahl auf eine Krise zusteuert. Denn laut der Geschäftsordnung des Thüringer Parlaments steht der jeweils stärksten Fraktion nach der Wahl das Vorschlagsrecht für den Landtagspräsidenten zu.

Ohne den kann das Parlament seine Arbeit nicht aufnehmen – und wenn der Landtagspräsident will, kann er die parlamentarische Arbeit massiv behindern. Er muss zum Beispiel beschlossene Gesetze unterschreiben und verkünden, damit sie zum geltenden Recht werden. Bislang eine reine Formalität.

Doch der Landtagspräsident hat ein Prüfrecht bezüglich der Gesetze. Und genau das könnte er ausnutzen, warnen Experten des "Verfassungsblogs". Diese haben in den vergangenen Monaten Schwachstellen im Freistaat zusammengetragen, die sich die AfD zunutze machen könnte, um die Demokratie gezielt anzugreifen. So könnte ein AfD-Landtagspräsident das Prüfrecht missbrauchen, um "unliebsame Gesetze der Regierung für Monate zu blockieren", wie es in einem Papier zum sogenannten Thüringen-Projekt heißt.

Wirklich hoffen kann die AfD auf das Amt zunächst nicht. Zumindest nicht aus Sicht der Landtagsverwaltung. Die argumentiert, dass das Vorschlagsrecht für das Amt auf die anderen Parteien übergeht, sollte sich keine Mehrheit für den Kandidaten der stärksten Fraktion finden.

Dann aber gilt eine Klage der AfD vor dem Verfassungsgericht als gesichert. Und dieser Rechtsstreit würde den Landtag bis zu seiner Klärung lahmlegen. Die neue Regierung könnte sich nicht bilden – und Ramelows Minderheitsregierung bliebe geschäftsführend im Amt.

Gut möglich also, dass Ramelow noch ein paar Tage mehr an seinen Rekord dranhängen muss. Ob er und die Thüringer nun wollen oder nicht.

Verwendete Quellen

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