Mehr als 30 Prozent der Stimmen hat die AfD in Thüringen und Sachsen geholt. Nach den Landtagswahlen ist eine Diskussion entbrannt, ob man eine Partei mit solchen Werten kategorisch aus der Regierung halten kann. Viele unserer Leser sagen nein – doch ein Experte hält dagegen.

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Bei den Landtagwahlen in Thüringen holte die AfD 32,8 Prozent und sichert sich den ersten Platz. In Sachsen landete sie mit 30,6 haarscharf hinter der CDU auf Platz zwei. Und in Brandenburger dürfte die Partei den Umfragen zufolge am 22. September Platz eins vor der SPD übernehmen.

Trotz dieser Wahlerfolge – an einer Regierung wird die AfD wohl in keinem der drei Bundesländer beteiligt werden. Keine der anderen Parteien will mit ihr zusammenarbeiten.

Viele unserer Leserinnen und Leser sehen das kritisch. Der Wähler habe am 1. September "klar zum Ausdruck gebracht, dass er mit der AfD in der neuen Regierung seine Interessen vertreten sehen will", heißt es etwa in einer Zuschrift an unsere Redaktion.

Es ist nur eine von vielen. Alle teilen denselben Tenor: Es sei undemokratisch, eine Partei mit solch starken Ergebnissen von der Regierungsbildung kategorisch auszuschließen. Damit würde der Wählerwille ignoriert.

Christian Stecker sieht das anders. "Demokratietheoretisch stimmt diese Aussage einfach nicht", erklärt der Professor für Politikwissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt im Gespräch mit unserer Redaktion.

AfD steht bei Mehrheitsbildung: "Allein auf weiter Flur"

Stecker forscht am Arbeitsbereich "Politisches System Deutschland und Vergleich politischer Systeme", das sich unter anderem mit dem Thema Regierungsbildung auseinandersetzt. Er sagt: "Solange sie nicht allein auf eine absolute Mehrheit kommt, hat keine Partei ein besonderes Anrecht auf eine Regierungsbeteiligung."

Für die absolute Mehrheit der Stimmen braucht eine Regierung 51 Prozent der Sitze im jeweiligen Parlament. Erst ab diesem Grenzwert kann sie größtenteils autonom regieren und Gesetze verabschieden. Rechnerisch ist es deshalb naheliegend, dass die stärkste Partei nach einer Wahl Teil der Regierung wird. Sie braucht immerhin am wenigsten zusätzlichen Stimmen von einem Partner, um die absolute Mehrheit zu erreichen.

Doch ein Zwang erwächst daraus nicht, sagt Experte Stecker. Im demokratischen System Deutschlands gehe es nicht primär darum, wer die meisten Stimmen bekommt. "Sondern darum, wer ist in der Lage, Partner zu finden, um eine absolute Mehrheit zu bilden." Und was das angehe, "steht die AfD allein auf weiter Flur." Denn die Partei sei "nicht nur bei den anderen Parteien, sondern auch bei deren Wählerinnen und Wählern sehr unbeliebt".

Was Stecker meint: Der in der Diskussion oft angeführte "Wählerwille", ergibt sich nicht nur aus den Stimmen für eine Partei. Schließlich haben sich in Thüringen mehr als zwei Drittel der Wähler explizit gegen die AfD entschieden. Laut einer Erhebung von Infratest dimap machten 55 Prozent der CDU-Wählerinnen und Wähler im Freistaat ihr Kreuz sogar vor allem deshalb bei den Christdemokraten, "damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt" .

Stärkste Kraft nicht an der Regierung? Kein Einzelfall

Zwar kommt es in Deutschland nicht häufig vor, dass die stärkste Kraft nach der Wahl nicht an der jeweiligen Regierung beteiligt ist. Doch Präzedenzfälle dafür finden sich trotzdem genug.

Bei den Bundestagswahlen 1969 gewann zum Beispiel die Union die meisten Sitze im Parlament. Der Bundeskanzler hieß nach der Wahl allerdings Willy Brandt, stammte von der SPD und regierte zusammen mit der FDP.

Und auch auf Länderebene gab es mehrfach ähnliche Konstellationen. 2011 holte etwa die CDU in Baden-Württemberg 39 Prozent der Stimmen. Doch die künftige Regierung wurde von Winfried Kretschmann (Grüne) zusammen mit der SPD aufgestellt. Grüne und Sozialdemokraten hatten zusammen 47,3 Prozent der Stimmen geholt – genug für die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament.

Ohne die Abstimmungen in Sachsen und Thüringen gab es seit 1949 insgesamt 254 Wahlen in Deutschland, rechnet Stecker vor. Bei 26 davon sei im Nachhinein eine Regierung ohne die stärkste Kraft gebildet worden. Heißt: Bei zehn Prozent aller Wahlen trat dieser Fall bislang ein.

Experte: So eine Regel wäre undemokratisch

Die Beispiele zeigen: Es gibt keine Pflicht, dass die stärkste Kraft nach einer Wahl an der Regierung beteiligt werden muss. Doch dass sich diese Auffassung in der Bevölkerung trotzdem hält, liegt nicht an der AfD. Es so aussehen zu lassen, als hätte man einen unumstößlichen Anspruch auf die Regierungsbeteiligung, "das hat die AfD nicht erfunden", so Stecker. Schließlich reklamieren auch andere Parteien regelmäßig einen eindeutigen Regierungsauftrag für sich, der ihnen angeblich erteilt worden wäre.

Gäbe es eine Regel, dass die stärkste Kraft nach der Wahl in die Regierung eingebunden werden müsste, würde das auch zu teils massiven Problemen führen. So würde etwa die Verhandlungsposition der entsprechenden Partei in Koalitionsgespräche unverhältnismäßig gestärkt. Denn wenn eine Partei so oder so als Teil der Regierung gesetzt ist, ist es auch viel schwerer, ihr inhaltliche Kompromisse abzuringen.

Koalitionsverhandlungen würde eine solche Regelung aber ohnehin obsolet machen. Wenn es deren Logik zufolge undemokratisch wäre, eine Regierung, ohne den Erstplatzierten zu bilden – muss schließlich das gleiche Argument auch für die zweitplatzierte Partei gelten.

Die reinen "Prozentwerte einer Partei nach der Wahl zum Maßstab" zu machen, würde zu politischen Zwangsehen führen, sagt Stecker. Das Resultat wären höchstwahrscheinlich "völlig absurde Koalitionen", die sich "auf keine einzige politische Maßnahme einigen könnten."

Dass es "so eine Regelung nicht gibt, hat den guten Grund, dass sie undemokratisch wäre", lautet Steckers Urteil zu dem Gedankenspiel. Und sein Fazit mit Blick auf die Realität? "Die AfD schaut legitimerweise bei der Regierungsbildung in Thüringen in die Röhre."

Verwendete Quellen:

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