Schon wieder ein Wahlkampf – und noch dazu im Winter: In Teilen Berlins wird am Sonntag die Bundestagswahl wiederholt. Unterwegs mit zwei Abgeordneten, die um ihr Mandat kämpfen müssen.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Joshua Schultheis und Fabian Busch. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Dem "alten Fritz" kann das Wetter nichts mehr anhaben. Regungslos steht der Namensgeber des Ortes auf dem Marktplatz von Friedrichshagen. Es ist ein grauer, windiger Dienstagnachmittag im äußersten Südosten Berlins. Einige Meter von der Statue Friedrichs des Zweiten entfernt steht ein kleines rotes Pult. "Stürmische Zeiten für die SPD", witzelt eine Wahlkampfhelferin.

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Sie ist hier mit Ana-Maria Trăsnea. Die gemeinsame Mission: Das vorzeitige Ende einer noch jungen Bundestags-Karriere verhindern. Erst im Mai 2023 war die 29-jährige Trăsnea als Nachrückerin in das bundesdeutsche Parlament eingezogen. Mit etwas Pech muss die junge Abgeordnete ihren Platz aber bald wieder räumen. Und nicht nur sie bangt: Berliner Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien müssen gerade Wahlkampf machen.

Wiederholung in 455 von 2.256 Wahlbezirken

Der Grund ist die teilweise Wiederholung der Bundestagswahl von 2021. In Berlin war diese alles andere als reibungslos verlaufen. Falsche oder fehlende Wahlzettel, lange Warteschlange und frühzeitig geschlossene Wahllokale hatten es zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern schwer gemacht, ihre Stimme abzugeben.

Vergangenen Dezember entschied das Bundesverfassungsgericht daher, dass in 455 von 2.256 Berliner Wahlbezirken die Wahl wiederholt werden muss. Kommenden Sonntag sind etwa 550.000 Berlinerinnen und Berliner dazu aufgerufen, erneut ihr Kreuzchen zu machen.

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Klinkenputzen im Wohnhaus

"Schüchtern darf man nicht sein", sagt Ottilie Klein und drückt auf mehrere Klingeln an einem Wohnhaus in Berlin-Mitte. Nach kurzem Warten und einer schnellen Vorstellung in die Gegensprechanlage ist die erste Hürde genommen: Die Haustür springt auf. Danach fahren die CDU-Bundestagsabgeordnete und eine Unterstützerin mit dem Aufzug nach ganz oben in den achten Stock. Von hier aus arbeiten sie sich "runter", Wohnungstür für Wohnungstür, fünf Türen pro Stockwerk.

Wer nicht zu Hause ist, findet später einen Flyer an der Tür. © F. Busch

"Einen schönen guten Abend, ich bin Ihre CDU-Bundestagskandidatin", sagt Ottilie Klein jedes Mal, wenn sich eine Tür öffnet. "Darf ich Ihnen ein bisschen Infomaterial hierlassen?" Dann fragt sie noch, ob die Leute wählen gehen. Aber sicher, sagen die einen. Nee, bestimmt nicht, sagen andere. "Das bringt ja doch nichts."

Haustürwahlkampf heißt das Konzept, das aus Sicht von Ottilie Klein so hart wie effektiv ist. Nur einmal schlägt ein Bewohner die Wohnungstür gleich wieder zu. Die anderen Menschen im Haus reagieren ähnlich: Erst sind sie kurz verdutzt. Dann ehrlich erfreut, dass sich da jemand auf den Weg zu ihnen gemacht hat. "Es macht einen Unterschied, ob jemand nur einen Flyer im Briefkasten findet – oder ob die Politikerin oder der Politiker direkt zu den Leuten kommt", sagt Klein.

Sitz könnte an anderes Bundesland gehen

Obwohl nur ein Prozent aller bundesweit abgegebenen Stimmen für ungültig erklärt wurde, kann die Wiederholungswahl durchaus Konsequenzen haben. Vor allem in den Bezirken Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf, die von den Pannen am Wahltag besonders stark betroffen waren, könnten die Direktgewählten dieses Mal anders heißen. Stefan Gelbhaar von den Grünen sowie der ehemalige Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) haben beide nur knapp eine relative Mehrheit der Erststimmen erhalten.

Grund zur Sorge haben auch die diejenigen, die jeweils als letzte über die Landesliste ihrer Partei in den Bundestag eingezogen sind. Ihr Platz ist nicht nur gefährdet, wenn das Zweitstimmen-Ergebnis prozentual schlechter ausfällt als 2021. Auch bei einer niedrigen Wahlbeteiligung könnten sie ihren Job verlieren. Denn im äußersten Fall würde der Platz im Parlament an ein anderes Bundesland gehen. Das könnte etwa die Grüne Nina Stahr oder den Linkspolitiker Pascal Meiser betreffen – ebenso wie Ottilie Klein und Ana-Maria Trăsnea.

Ana-Maria Trăsnea: "Stimmung hat sich stark verändert"

Der in Rumänien geborenen SPD-Politikerin ist es daher ein Anliegen, die Bürger von Friedrichshagen zum Wählen zu motivieren. "Viele wissen gar nicht, dass ihre alte Stimme ungültig ist", sagt Trăsnea. "Dabei geht es nicht nur um Parteipolitik, sondern um ganz Berlin, das eine Vertreterin oder einen Vertreter im Bundestag verlieren könnte."

Ana-Maria Trăsnea vor einer Gedenkstele für den Sozialdemokraten Otto Wels, der 1933 von den Nazis ins Exil gezwungen wurde.

Trotz des schneidenden Windes verteilt Trăsnea unermüdlich Flyer sowie rote Gummibärchen an Vorbeilaufende. Vor allem Eltern mit kleinen Kindern nehmen das gerne an. Ein Fahrradfahrer bedankt sich und ruft: "Viel Erfolg!". Andere reagieren mit Ablehnung. "Verbessern Sie Ihre Politik", sagt eine Frau laut. "Ganz schlimm." Für Trăsnea und ihr Team sind solche Reaktionen derzeit Alltag. "Ehrlich gesagt: Das ist der härteste Wahlkampf, den ich mitgemacht habe."

2021 war Trăsnea im Bezirk Treptow-Köpenick, in dem auch Friedrichshagen liegt, als Direktkandidatin der SPD angetreten. Sie unterlag dem bundesweit bekannten Gregor Gysi (Linke), ersetzte aber vergangenes Jahr im Bundestag Cansel Kiziltepe (SPD), die in die Landespolitik gewechselt war. "Die Stimmung im Land hat sich in den letzten Jahren stark verändert", erzählt Trăsnea heute. "Wir müssen unsere Demokratie verteidigen." Bei einem Infostand sei sie vergangenen Herbst von einem Passanten geschubst worden. "Ihr sollt verrecken", habe ihr ein anderer zugerufen. "Ich wähle nur noch die AfD."

Ottilie Klein: "Berliner können der Bundesregierung ein Zwischenzeugnis ausstellen"

Seit der Bundestagswahl 2021 zeichnet sich in den Umfragen eine deutliche Verschiebung ab. Die regierenden Fraktionen, insbesondere die Kanzler-Partei SPD, verlieren deutlich in der Wählergunst. Die AfD könnte ihren Stimmanteil dagegen beinahe verdoppeln, wenn neu gewählt würde.

Anders als die Sozialdemokratin Trăsnea wird CDU-Politikerin Ottilie Klein voraussichtlich von diesem Trend profitieren. Auch die CDU, größte Oppositionspartei im Bundestag, erlebt einen Aufschwung in den Umfragen. Der Grund ist die große Unzufriedenheit mit der Bundesregierung. "Die steigenden Preise sind für viele Menschen das wichtigste Thema", sagt Klein. "Alles ist zum Jahresbeginn nochmal teurer geworden. Tanken, Heizen, essen gehen, Lebensmittel." Es sei gut, dass die Berlinerinnen und Berliner jetzt die Möglichkeit hätten, der Bundesregierung ein Zwischenzeugnis zu geben.

"Ein politisches Mandat hat man immer auf Zeit. Das ist gewissermaßen Berufsrisiko."

Ottilie Klein

Allerdings könnte dieses "Zwischenzeugnis" auch für Ottilie Klein unangenehme Folgen haben. Das deutsche Wahlsystem ist kompliziert, seine Wirkungen kaum vorherzusagen. Selbst wenn die CDU bei der Wahlwiederholung hinzugewinnt, könnte die 39-Jährige dadurch ihr Mandat verlieren: Sie hat 2021 ihren Wahlkreis Berlin-Mitte nicht direkt gewonnen, aber ist über die Landesliste der CDU in den Bundestag eingezogen. Wenn ein anderer CDU-Direktkandidat nun einen Berliner Wahlkreis hinzugewinnt, könnte ein CDU-Kandidat von der Liste weniger zum Zuge kommen. Das wäre dann Ottilie Klein.

Langer Atem gefragt – jetzt erst recht

Ein Mandatsverlust mitten in der Wahlperiode? Damit hatten die Abgeordneten eigentlich nicht gerechnet, als sie 2021 ins Parlament einzogen. Für vier Jahre doch eigentlich. Natürlich würde sie sich freuen, Bundestagsabgeordnete bleiben, zu können, sagt Ottilie Klein. "Am Ende entscheidet der Wähler. Ein politisches Mandat hat man immer auf Zeit. Das ist gewissermaßen Berufsrisiko."

Die CDU-Politikerin und ihre vier Helferinnen und Helfer ziehen an diesem Abend von Wohnhaus zu Wohnhaus. Es ist schon dunkel, aber immerhin mild für die Jahreszeit. Trotzdem schlaucht der Winterwahlkampf alle Politikerinnen und Politiker in der Hauptstadt: Die Vorbereitungszeit war kurz – außerdem ist vor einem Jahr schon die Abgeordnetenhauswahl wiederholt worden. Nebenbei gilt es noch den Vollzeitjob als Bundestagsabgeordnete zu erledigen.

Auch für Ana-Maria Trăsnea ist es eine anstrengende Zeit. Insgesamt 25 Wahlkampftermine habe sie in diesem Winter wahrgenommen, so die Abgeordnete. Der Verlust ihres Mandats wäre bitter. "Ich wollte diese Aufgabe unbedingt übernehmen", sagt sie. Doch unabhängig davon, ob es nach der Wiederholungswahl für sie reicht oder nicht, will sie 2025 erneut für den Bundestag kandidieren. Dass sie einen langen Atem hat, beweist Trăsnea an diesem Tag. Für sie geht es jetzt noch weiter zu einem Verein in Friedrichshagen.

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