"Mit allen Menschen, die zu uns kommen, müssen wir anständig und menschlich umgehen", sagt Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas. Im Interview mit unserer Redaktion spricht die CDU-Politikerin über die Bedeutung von Integration, das Glück der Wiedervereinigung und ihre Kritik am Auftreten der AfD.

Ein Interview

Der fünfte Stock des Jakob-Kaiser-Hauses neben dem Reichstag in Berlin: Hier haben die vier Vizepräsidentinnen und der Vizepräsident des Bundestags ihre Büros. Sie sind die Stellvertreter der Bundestagspräsidentin, vertreten das Parlament nach außen, leiten die Plenarsitzungen – und achten dabei auf einen angemessenen Ton.

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Seit 2021 gehört die CDU-Politikerin Yvonne Magwas zu dieser Runde. Die Abgeordnete aus dem Vogtland in Sachsen erhebt ihre Stimme auch in Diskussionen in ihrer Partei. Zur AfD will sie weiterhin eine klare Grenze ziehen.

Frau Magwas, Sie bezeichnen die Wiedervereinigung als "größtes Glücksereignis der jüngeren Geschichte". Eine repräsentative Umfrage hat jetzt ergeben: Aus Sicht von 60 Prozent der Deutschen überwiegt das Trennende zwischen Ost und West. Was ist schiefgelaufen?

Yvonne Magwas: Vielleicht haben wir in letzter Zeit zu wenig auf das Verbindende geschaut. Es gibt tolle deutsch-deutsche Projekte und viel ehrenamtliches Engagement, es gibt Verbindungen zwischen Vereinen, Städten und ganzen Regionen. Dadurch sind viele Freundschaften zwischen Ost und West entstanden. Das müssen wir mehr in den Vordergrund rücken. Ebenso natürlich den gelungenen Aufbau. Wer mit offenen Augen durch unsere Städte und Gemeinden geht, sieht, wie viel Schönes seit 33 Jahren entstanden ist.

Trotzdem sind gerade in den östlichen Bundesländern viele Menschen mit ihrer Lebenssituation unzufrieden.

Vermögensfragen spielen dabei eine große Rolle: Es gibt eine unterschiedliche Vermögensverteilung und leider immer noch Lohnunterschiede. Im Erzgebirge und bei mir im Vogtland bekommen über 37 Prozent der Beschäftigten nur den Mindestlohn. Auch bei den Berufsabschlüssen fühlen sich manche nicht ausreichend wertgeschätzt. Rentenfragen haben in der Vergangenheit ebenfalls eine Rolle gespielt. Auch wenn die Rentenwerte in Ost und West inzwischen angeglichen sind, bleibt das wegen der niedrigeren Löhne weiterhin ein Thema.

Politiker haben zuletzt immer wieder DDR-Vergleiche gezogen. Sahra Wagenknecht wirft den Grünen eine "Übergriffigkeit" vor, die an die DDR erinnere. Der Thüringer CDU-Landesvorsitzende Mario Voigt hat die Wärmewende-Pläne der Bundesregierung als "Energie-Stasi" bezeichnet. Wie finden Sie solche Vergleiche?

Furchtbar. Ich würde heutzutage keinerlei DDR-Vergleiche ziehen, solche Begrifflichkeiten finde ich hochgradig unpassend. Die DDR war eine Diktatur. Irgendeine Heizungsart infrage zu stellen, ist doch kein Vergleich zur allgegenwärtigen Unterdrückung und zur Abwesenheit von Demokratie in der DDR.

Yvonne Magwas: "Ohne Integration kann Zuwanderung nicht gelingen"

Sie haben während Ihrer Studienzeit ein Unternehmen mitgegründet, das Praktikanten an Betriebe vermittelt. Auch heute ist der Fachkräftemangel ein großes Problem. Wie nehmen Sie ihn wahr?

Wenn ich Unternehmen besuche, ist das häufig neben den Energiepreisen die erste Frage: Wo bekommen wir Personal her? Man spürt es schon, wenn gastronomische Einrichtungen nur noch eingeschränkt öffnen können. Massiv ist auch der Mangel im Pflegebereich. Mobile Pflegedienste überlegen, ob sie aufhören müssen.

Was antworten Sie, wenn Sie gefragt werden: Wo bekommen wir Personal her?

Ich organisiere in meinem Wahlkreis in solchen Fällen oft Treffen zwischen den betroffenen Unternehmen, Jobcenter, Arbeitsagentur und Wirtschaftsförderung des Landkreises, damit man zusammen Lösungen findet: Wie kann man Unternehmen zum Beispiel mit Bürgergeld-Beziehern zusammenbringen? Und welche Fortbildungen sind dann nötig? Hürden sind häufig auch die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen oder Sprachkenntnisse.

Inwiefern?

Es gibt Berufe, bei denen nicht unbedingt weit fortgeschrittene Deutschkenntnisse nötig sind, weil die Sprache auch direkt am Arbeitsplatz gelernt wird. Natürlich bilden auch Unternehmen selbst aus, sie bekommen aber immer weniger Lehrlinge. Eine dritte Säule ist das direkte Anwerben von ausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland, beispielsweise im Pflegebereich von den Philippinen. Zwischen Deutschland und den Philippinen gibt es entsprechende Abkommen dazu.

"Wenn wir sagen, niemand Fremdes soll bei uns sein, dann bekommen wir in der nahen Zukunft riesengroße Probleme."

Yvonne Magwas

Wenn wir Fachkräfte aus dem Ausland holen, dann braucht es auch in der Bevölkerung eine Offenheit dafür.

Natürlich. Man muss Haltung zeigen: gegen Fremdenfeindlichkeit und für Weltoffenheit. Wenn wir sagen, niemand Fremdes soll bei uns sein, dann bekommen wir in der nahen Zukunft riesengroße Probleme. Das gilt besonders für die überalterten, peripheren, ländlichen Regionen.

Sie fordern also einerseits Offenheit gegenüber ausländischen Fachkräften. Andererseits vermittelt Ihre Partei, die CDU, zunehmend die Botschaft: Es kommen zu viele Menschen aus dem Ausland zu uns. Das passt doch nicht zusammen.

Doch, das passt zusammen. Die Kommunen, Schulen, Kitas sind zunehmend überlastet von der großen Zahl Menschen, die zu uns kommen. In diesem Jahr gab es bisher mehr als 233.000 Erstanträge auf Asyl, zusätzlich leben 1,2 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge im Land. Das muss man vor Ort erstmal hinbekommen. Ich habe gerade die Integrations- und Migrationsberatung in meinem Wahlkreis besucht. Auch dort schildert man, dass die Nachfrage sehr groß ist und Migranten zum Teil drei bis vier Wochen auf einen Termin warten müssen. All diese Sorgen muss man erst nehmen. Ich finde den Begriff Integrationsgrenze zutreffend. Ohne Integration kann Zuwanderung nicht gelingen. Zuwanderung muss besser gesteuert, ungesteuerte Migration stärker begrenzt werden.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat vor Kurzem unterstellt, abgelehnte Asylbewerber würden anderen Menschen die Zahnarzttermine wegnehmen. So eine Rhetorik trägt doch nicht zur Weltoffenheit bei.

Wir müssen Probleme lösen, ohne schrille oder populistische Töne. Aber wir müssen Probleme auch offen ansprechen. Wenn zu viele Menschen zu uns kommen, sind die Nadelöhre eben Kita-Plätze, Schulen, Deutschkurse und Arzttermine. Deshalb brauchen wir jetzt eine Begrenzung und mehr Ordnung im System. Mit allen Menschen, die zu uns kommen, müssen wir anständig und menschlich umgehen. Die Bundesregierung plant, bei den Migrationsberatungen im kommenden Jahr 30 Millionen Euro einzusparen. Das ist der vollkommen falsche Ansatz. Die Integrations- und Migrationsberatungen haben schon jetzt eine riesige Nachfrage und zu wenig Personal und sollen in Zukunft noch 30 Millionen Euro sparen. Wie soll dann noch eine ordentliche Integration stattfinden? Integrationsberatung wirkt, weil sie den Menschen auch eine Art Lebensberatung bietet, unsere Werte vermittelt und Mut gibt. Sie ist auch wichtig, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten.

"Arbeit ist der beste Weg zur Integration"

Gerade wird diskutiert, Arbeitsverbote für Asylbewerber zu lockern. Finden Sie das richtig? Wenn Menschen arbeiten dürfen, kann das die Integration erleichtern – und gleichzeitig den Staat entlasten.

Arbeit ist der beste Weg zur Integration. Darum ist es wichtig, jegliche Hemmnisse zur Arbeitsaufnahme zu reduzieren. Viele Migranten dürfen bei uns nach relativ kurzer Zeit arbeiten, viele aber auch nicht. Problem sind häufig die lange Zeit für die Anerkennung der Berufsabschlüsse und fehlende Kapazitäten für Sprachkurse. Da müssen wir dringend besser werden.

Inwiefern?

Bei medizinischem Personal dauert die Anerkennung eines ausländischen Berufsabschlusses fast zwei Jahre. Das kann nicht sein. Wenn jemand mit einem Medizinstudium aus Kiew zu uns kommt, muss der Abschluss schnell anerkannt werden. Auch die Zertifizierung von Lehrkräften für Deutschkurse beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist ein umständliches Thema. Wir brauchen da mehr Mut zum Pragmatismus.

Sie haben Friedrich Merz im Sommer widersprochen, als er laut über eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene nachgedacht hat. Sie werben für Weltoffenheit und eine klare Abgrenzung zur AfD. Das dürfte gerade in Ihrer Heimat nicht jedem gefallen. Wie gehen Sie mit Widerspruch um?

Ich bekomme auch viel Zuspruch – und der motiviert mich. Aus meiner Sicht ist die AfD rechtsextrem. Das macht mir große Sorgen. Friedrich Merz hat sehr schnell klargestellt, dass er da missinterpretiert wurde.

Warum ist Ihnen die klare Abgrenzung von der AfD so wichtig?

Die Jugendorganisation der AfD und einzelne Landesverbände werden vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft, die Gesamtpartei ist ein Verdachtsfall. Als Vizepräsidentin erlebe ich die AfD im Bundestag. Sie ist die Fraktion mit den meisten Ordnungsrufen. Die Äußerungen ihrer Abgeordneten sind immer wieder am Rande des Sagbaren, häufig unter der Gürtellinie, häufig laut. Die AfD will Abgeordnete anderer Fraktionen aus dem Parlament jagen oder schlagen.* Worte können Taten werden. Deren Worte sind ernst gemeint. Jedes Einzelne. Das Ganze steht im Widerspruch zu unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Ich will nicht zurück in eine Diktatur! Die Demokratie ist so ein Glück.

* Anmerkung der Redaktion: Yvonne Magwas bezieht sich damit auf Äußerungen des AfD-Politikers Mike Moncsek, der in einer Bewerbungsrede für die Europawahl im Januar 2019 über Parlamentarier anderer Parteien sagte: "Die müssen wir rausschlagen und wir müssen sie jagen und wir werden sie jagen und erlegen. Das ist mein erklärtes Ziel."

Über die Gesprächspartnerin

  • Yvonne Magwas wurde 1979 in Rodewisch im Vogtland (Sachsen) geboren. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Betriebswirtschaftslehre in Chemnitz und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten. 2013 zog sie als direkt gewählte Abgeordnete für die CDU selbst in den Bundestag ein, wo sie unter anderem Vorsitzende der Gruppe der Frauen in der CDU/CSU-Fraktion war. 2021 wurde Magwas zur Vizepräsidentin des Parlaments gewählt. Sie ist mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Marco Wanderwitz verheiratet, mit dem sie ein gemeinsames Kind hat.
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