Runde elf des Formel-1-Grand-Prix von China in Shanghai: Ferraris Kommandostand greift ins Renngeschehen ein. Team-Neuling Charles Leclerc - zu diesem Zeitpunkt Drittplatzierter - erhält die Anweisung, seinen Team-Kollegen Sebastian Vettel vorbei zu lassen. Eine Entscheidung, die Fans der Formel 1 wütend macht. Experten wie Hans-Joachim Stuck befürchten für das Rennen in Baku dieses Wochenende Ähnliches.

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Ferrari steht unter Druck. Die Scuderia hat seit 2008, als sie Konstrukteurs-Weltmeister wurde, in der Formel 1 keinen WM-Titel mehr gewonnen. Nach drei Saisonrennen gibt Mercedes wieder den Ton an und rast Ferrari davon.

Stuck: "Eine depperte Entscheidung"

Die Italiener haben aber nicht nur das Problem, mit dem Tempo des Dauerrivalen in Silber derzeit nicht Schritt zu halten. Ferrari hat auch einen teaminternen Zweikampf zu managen. Dabei versagten die Roten zuletzt in Shanghai, als Teamchef Mattia Binotto den schnellen Neuling Charles Leclerc aufforderte, für den ihm folgenden Team-Gefährten Sebastian Vettel vom Gas zu gehen.

Der frühere Formel-1-Pilot Hans-Joachim Stuck nennt dies im Gespräch mit unserer Redaktion in bestem Bayerisch eine "depperte" Entscheidung Ferraris: "Diese Stallorder ist völliger Blödsinn und nicht gut für den Sport. Der Fan fühlt sich vera****t."

Brundle: "Leclerc wird zu Vettels Wasserträger"

Stucks früherer Gegner und Renn-Kollege Martin Brundle, der die Formel 1 in Großbritannien für Sky Sports analysiert, befürchtete in seiner Kolumne für den Bezahl-Sender einen nachhaltigen Schaden für Leclerc: "Man darf ihn nicht seiner Glaubwürdigkeit berauben und ihn als Wasserträger abstempeln."

Allerdings gibt Stuck einen wichtigen Aspekt zu bedenken: "Wir kennen seinen (Leclercs, Anm. d. Red.) Vertrag nicht. Vielleicht ist dort Sebastian Vettel als klare Nummer eins festgelegt."

Darauf jedenfalls deutet Ferraris Kommando aus Shanghai hin. "Zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison aber", führt Stuck weiter aus, "ist das total unangebracht."

Erst recht, weil der Fan wahren Rennsport sehen wolle, packende Positionskämpfe und waghalsige Überholmanöver. "Leclerc fährt absolut auf Augenhöhe von Vettel und ist bereits ein gestandener Mann", schrieb Brundle in seiner Kolumne. "Doch das wird Ferrari eher früher als später noch Kopfschmerzen bereiten. Und dann wird es richtig bitter."

Mercedes-Dominanz überstrahlt derzeit alles

Noch stehen von 21 Rennen 18 aus. "Die Stallorder wird immer diskutiert", weiß Stuck. "Doch am Ende einer Saison, wenn es möglicherweise um den WM-Titel geht, ist sie in Ordnung und verständlich."

Dass es für Vettel und Leclerc am Ende des Jahres noch um den WM-Titel gehen wird, ist aufgrund der derzeitigen Dominanz von Mercedes nur schwer vorstellbar. In der Fahrer-Wertung rangieren Vettel (37 Punkte) und Leclerc (36) noch hinter Red-Bull-Pilot Max Verstappen (39) auf den Positionen vier und fünf.

Vorweg fahren die beiden Mercedes-Silberpfeile: Titelverteidiger Lewis Hamilton (68 Punkte) führt vor Valtteri Bottas (62). "Mercedes muss einen Mega-Motor haben", vermutet Stuck angesichts des Abstands zu Ferrari, führt aber noch etwas Wesentliches ins Feld, das mit dem Auto nichts zu tun hat. "Toto Wolff ist ein ordentlicher Team-Manager. Der regelt das anders. Da darf auch Bottas mal gewinnen." So wie zum Auftakt in Melbourne.

Stuck: "Binotto muss noch lernen"

Stuck aber will diesen Einwurf nicht als generelle Kritik an Ferraris Teamchef verstanden wissen: "Ich kenne den Mattia Binotto gut. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Maurizio Arrivabene kommt er aus dem Fach und ist deshalb besser."

Gleichwohl müsse Binotto noch lernen. "Eine Stallorder muss vor Beginn des Rennens im Team-Briefing ausgegeben werden. Binotto aber entscheidet nicht allein. In so einem Team stehen noch 100 Mann dahinter."

Ferrari spüre den "Mega-Druck. Mercedes und sie stehen im Rampenlicht der Formel 1."

Vettel kennt dieses Rampenlicht. Er war mit Red Bull viermal Weltmeister, und das zwischen 2010 und 2013 in Serie. Inzwischen aber wartet der 31-Jährige seit elf Rennen auf seinen 53. Sieg in der Formel 1.

"Ich kenne das aus meiner eigenen Erfahrung", schildert Stuck. "Der alte Hase hat Druck unter dem Hintern. Du fängst an zu überlegen. Der Jüngere kratzt an Deinem Lack. Für Sebastian ist das eine schwierige Situation."

Die Zukunft gehört Leclerc

Vettel mache sich demnach "Gedanken. Er wird aber zurückschlagen." Immerhin musste Vettel bereits vor dem Rennen in Shanghai Rücktrittsgerüchte aus der Welt schaffen. "Dafür ist er noch ein bisschen zu jung", lacht Stuck nur.

Trotzdem gehört die Zukunft dem um zehn Jahre jüngeren Leclerc. "Ferrari hat ihm eine Chance gegeben, doch er muss sich zunächst unterordnen", analysiert Stuck.

Er vermutet, dass der neue Arbeitgeber des Monegassen nicht erwartet habe, dass das von Sauber geholte Talent "so schnell so viel Gas gibt."

In Bahrain war Leclerc im zweiten Rennen der Saison auf dem Weg zu seinem ersten Formel-1-Sieg, als den Ferrari die Kräfte verließen. Pole-Setter Leclerc führte 41 Runden lang, fuhr auch die schnellste Rennrunde, musste sich im Endspurt jedoch von Hamilton und Bottas überholen lassen und rettete mit seinem waidwunden Wagen so gerade Rang drei vor Verstappen ins Ziel.

Auf diesen Nackenschlag reagierte Ferrari mit der Stallorder in Shanghai aus Sicht der Experten unangemessen und ungeschickt. "Zwei Wochen später nutzt man ihn als Prellbock hinter Vettel", kritisierte Brundle und fragte: "Warum?" Schließlich sei es Vettel gewesen, "der in Bahrain ein Ergebnis weggeschmissen hat." Ein Fahrfehler im Positionskampf mit Hamilton endete für Vettel in einem Dreher und im Verlust der Aussichten auf einen Platz auf dem Podest.

Stuck kennt Leclercs mentale Stärke

Gespannt schauen die Formel-1-Fans deshalb nach Aserbaidschan. Wie geht das Duell bei Ferrari in Baku weiter? Hat Leclerc aus Shanghai einen psychologischen Knacks mitgenommen? Stuck glaubt das nicht. "Ich weiß, dass er wahnsinnig viel im mentalen Bereich arbeitet und die Fähigkeit hat, sich unheimlich zu konzentrieren. Ich bin gespannt, was er macht."

Dazu kommt: "Baku ist eine Fahrerstrecke", betont Stuck, "ähnlich wie Monaco." Und von dort stammt Leclerc. Baku biete über eine niedrigere Durchschnittsgeschwindigkeit und eine somit geringere Bedeutung der aerodynamischen Parameter zwar Chancen für Ferrari, den Abstand auf Mercedes zu verkürzen. "Doch Mercedes wird auch dort dominant bleiben", vermutet Stuck - und kann in aller Ruhe abwarten, wie Ferrari dahinter den Zweikampf zweier jetzt schon gleich starker Kollegen regelt. Mit Blick auf eine erneute Stallorder befürchtet Stuck: "Es wird nicht besser werden."

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