Das Champions-League-Finale gegen den FC Barcelona wird für Andrea Pirlo der letzte große Auftritt auf der ganz großen Bühne des Fußballs. Juventus Turins Zauberfuß ist der Antiheld des modernen Fußballs und steht nun vor seiner finalen Herausforderung - vor allem gegen Lionel Messi.
Wie beschreibt man einen Spieler, den man nicht beschreiben kann? Vielleicht so: "Andrea Pirlo ist der Beweis der Existenz Gottes." Das hat Gigi Buffon einmal gesagt. Und Buffon muss es wissen - er ist in Italien ja selbst so etwas wie ein Heiland.
Andrea Pirlo, seit wenigen Tagen 36 Jahre alt, wird heute Abend in Berlin das letzte große Finale seiner furiosen Karriere bestreiten. Mit Juventus Turin hat es der "Hipster des Weltfußballs" (Gazzetta dello Sport) tatsächlich noch einmal in ein großes Endspiel geschafft. Die Partie gegen den FC Barcelona wird für Pirlo die abschließende, ultimative Herausforderung.
Natürlich ist einer wie er nicht zu erschüttern, auch nicht durch die Aussicht auf ein Duell mit der wohl besten Vereinsmannschaft der Welt. Andrea Pirlo hat alles erlebt, was ein Sportlerleben hergeben kann. Er ist Weltmeister, mehrfacher italienischer Meister mit dem AC Milan und Juventus, er hat zweimal die Champions League gewonnen und in jüngeren Jahren die U-21-Europameisterschaft. Um nur mal die wichtigsten Titel zu nennen.
Und er hat zerstörerische Niederlagen einstecken müssen. Den Niedergang von Istanbul zum Beispiel, als er mit Milan im Finale der Königsklasse gegen Liverpool zur Pause 3:0 führte und am Ende im Elfmeterschießen verlor. Die Nacht vom Bosporus bedeutete einen tiefen Einschnitt in seiner Karriere.
"Nach diesem Spiel schien alles keinen Sinn mehr zu machen", schrieb Pirlo Jahre später in seiner Biographie. In den Wochen nach der Pleite sei er tatsächlich in eine Art Depression verfallen. Der Triumph im WM-Finale von Berlin rund ein Jahr später war das Ende vom vermeintlichen Ende und für Pirlo gleichzeitig auch der Aufstieg in die Riege der Weltstars des Fußballs.
Mit den Jahren hat er seinen Stil kultiviert und so einzigartig gemacht, dass er quasi von der gesamten Fußballwelt beneidet wird. Er ist ein aus der Zeit gefallener Einzelkönner, sein Spiele kann schwer wirken und melancholisch, es ist langsam, träge. Dazu diese stets schläfrig wirkenden Augen. Und im nächsten Moment, wenn der Gegner eine Millisekunde unaufmerksam ist, zerschneidet ein einziger Pass die gegnerischen Linien. So kühl, so scharf, so präzise.
Metronom seiner Mannschaft
Im durchgetakteten Fußball der Moderne ist er einer der letzten großen Individualisten - ohne aber dabei sein Ego zu überhöhen wie Zlatan Ibrahimovic oder CR7. Andrea Pirlo ist lässig. Auf dem Platz lässt er die anderen um sich herum toben. Die Wucht des modernen Spiels, die hochgejazzte Dynamik, die immer jünger und noch schneller werdenden Mit- und Gegenspieler: Pirlo registriert die Veränderungen um ihn herum und spielt trotzdem das Spiel, das er nun seit über einem Jahrzehnt auf absolutem Weltniveau spielt.
Das ist vielleicht der Grund dafür, warum er von fast jedem Fan geliebt wird: Er ist in seiner Art und seinem Bewegungsablauf noch eher dran an den hunderten Millionen von Freizeitkickern, in ihm erkennen sich einige zumindest in Ansätzen noch wieder. Wenn sie mal wieder eine Verschnaufpause einlegen oder einen Zweikampf verlieren müssen.
Als Metronom seiner Mannschaft kreist der Rest um ihn herum, das war bei Milan so und jetzt bei Juventus. Nur bei Inter, wo er seine Profikarriere begann, erkannten die Bosse seine Gabe nicht. Er wurde weggeschickt in die Provinz, nach Reggina und in seinem Heimatklub Brescia. Das Scheitern beim FC Internazionale war die erste große Niederlage seiner Laufbahn, aber eben auch der Ausgangspunkt für eine Dekade voller Titel und Triumphe bei Milan.
Andrea Pirlo steht vor seiner finalen Aufgabe
Da war er dann auf einmal auch nicht mehr gut genug, zu langsam, zu phlegmatisch für den rasanten Fußball auf Spitzenniveau. Dass ihn Silvio Berlusconi gehen ließ und die Rossonerri ihm nach Jahren der Treue zum Abschied einen schnöden Kugelschreiber schenkten und sonst nichts, hat ihn getroffen.
Dabei war Pirlo auch neben dem Platz immer derjenige, der die Gemeinschaft führen und zusammenschweißen konnte. Sein juveniler Humor ist in Italien legendär. Als sein ehemaliger Mitspieler Gennaro Gattuso um eine mögliche Vertragsverlängerung beim AC Milan feilschte, klaute Pirlo dessen Handy und schickte eine SMS an Generalmanager Ariedo Braida. "Ariedo, wenn du mir gibt’s, was ich will, kannst du meine Schwester haben."
Nach sehr vielen Höhen und einigen bemerkenswerten Tiefen steht Andrea Pirlo jetzt also vor seiner letzten Aufgabe. Für den Sommer könne er sich gut ein Engagement in den USA vorstellen, Juventus verlassen, die Serie A, die Champions League, die ganz große Bühne. Davor steht ihm noch einmal Leo Messi gegenüber.
Es wird ein finaler Akt im Kampf der Kulturen. Als Pirlo mit Italien das Finale der EM 2012 gegen Spanien verlor, war das auch seine ganz persönliche Niederlage. Er, der vorgeblich einzige im Team der Azzurra mit Fußball-Grandezza, war gegen die spanischen Ästheten schlicht mit untergegangen. Pirlo weinte in den Minuten nach dem Abpfiff bitterlich, er hat diese Demütigung von damals noch klar in seinem Kopf.
Auch deshalb ist das Champions-League-Finale für ihn so eine große Herausforderung. Er kann noch ein letztes Mal aufbegehren. Gegen Barca, gegen Messi. Die anderen Überhelden haben er und seine Mannschaft bereits ausgeschaltet. Für Real Madrid und Cristiano Ronaldo waren Juventus und Andrea Pirlo im Halbfinale eine Spur zu groß.
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